Boock nicht überschätzen!

Der Brief von Mischa hat mich betroffen gemacht — er hat natürlich aus meiner Sicht recht, daß er feststellt, daß die Gefangenen in Stammheim ermordet wurden. Er hat auch recht damit, daß er total wütend ist. Ich sehe hier dem täglichen Verrecken zu — Sterben wäre ein Euphemismus — und es fällt mir auch immer schwerer nicht durchzudrehen. Und sicherlich hat Boock nicht immer Stärke bewiesen! Nur können wir mit diesen Fakten selbst dann nicht so umgehen, wie Mischa das tut, wenn wir unfehlbar und zumindest sehr viel weniger schwach wären als Boock. Aus diesem Grund füge ich ein paar Zeilen bei, die als offener Brief gedacht sind:

Lieber Michael, wer in einem der bundesrepublikanischen Trakte, wer gar im Toten Trakt saß, der fragt sich, wie du die Mordnacht von Stammheim und die sich ständig wandelnden „Wahrheiten“ von Boock vermischen kannst?! Mit dir gehe ich davon aus, daß die Selbstmordthese eine der schwächeren Erfindungen des Staatsschutzes ist. Und? Morgen findet man jemanden, der behauptet, Holger Meins hätte sich überfressen, und Ulrike... und...und?

Boock hat sich, teils bleihaltig, teils handschriftlich, zu diesem und jenem geäußert — ach ja, er war auch nicht immer stark. Und? Warst du immer stark? Ich? Aber wenn du allen Ernstes schreibst, daß Boocks vorläufig letzte „Wahrheit“ die Fakten beiseite wischt, dann überschätzt du Boock genauso wie die, die ihn derzeitig propagandistisch aufmotzen wie bei nem Maskenball der Desinformation. Die Herren mit dem vermeintlich langen Arm und der kurzen Moral haben als Bundesanwälte ja zur Glaubwürdigkeit des Drogenkranken Boock ausführlich beigetragen. Und, lieber Mischa, die wirklich wichtige Information zu Stammheim kam in diesen Tagen nicht von den Propagandisten aus Karlsruhe sondern von ihrem trinkfesten ehemaligen Vorgesetzten, Rebmann! Der, so haben wir alle vernommen, hat eingestanden, daß natürlich darüber diskutiert worden war, die Gefangenen als Geiseln zu behandeln und zu erschießen — in diesem Deutschen Herbst! Ein Weinchen mehr, vielleicht hätte er ja dann, wie einst der Polizeihauptmann, der Rosa Luxemburg erschoß und von dieser Republik Jahrzehnte Rente kassiert, auch noch die allerletzten Wahrheiten....?!

Unsere Erfahrungen in den Trakten lassen nur eine Interpretation der Fakten zu — die Gefangenen in Stammheim wurden getötet! Und wir wissen natürlich auch, daß dieser Staat das Töten nicht nur diskutiert! Die Zahl derer, die im Knast verrecken, ohne daß es uns gelungen wäre herauszufinden, was denn nun wirklich geschah, ist Legion! Du und ich und viele Freunde in Stammheim und Straubing, in Schwalmstadt und Stadelheim wissen das! Man wird von diesem Staat schon mal gestorben!

Aber, und genau das ängstigt mich etwas an deinem Brief, der offenkundig mit „Schaum vorm Maul“ geschrieben wurde — wenn wir so werden wie die, wenn wir denen, gegen die wir kämpfen, immer ähnlicher werden, dann haben wir uns um uns selbst, dann haben wir uns letztlich umgebracht!!

Ob Boock schwach, Jauernik stark, Milberg ein Arsch ist, ist das Thema? Wohl kaum!

Die Diskussion um die Ermordung von Symbolen des Widerstands führt man angemessen, indem man für die gleichen Ziele kämpft! Für Freiheit, Liebe, Zärtlichkeit!

Peter Milberg, JVA Kassel