KOMMENTAR
: Der neue Rechtsstaat

■ Das brennende Haus als Zäsur der Nachkriegsgeschichte

Es ist rund zehn Jahre her, daß sich in Bonn fast eine halbe Million Menschen versammelten, um gegen eine Aufrüstungspolitik zu protestieren, die von der Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung als Bedrohung empfunden wurde. Diese Demonstration verlief friedlich, es wurde viel argumentiert, und einen Tag später beschloß das Kabinett unter Helmut Kohl, die sogenannte Nachrüstung mit Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles umzusetzen. Keinesfalls, so Kohls Credo, werde man sich dem Druck der Straße beugen, der Sinn einer parlamentarischen Demokratie sei ja gerade, Entscheidungen unabhängig von Stimmungslagen treffen zu können.

Wer sich an den Herbst 1977, in dem die Selbstmorde in Stammheim und die Großdemonstration gegen das AKW in Kalkar zeitlich fast zusammenfielen, noch erinnert, weiß, mit welchen Mitteln der Staat gegen seine Kritiker vorzugehen in der Lage ist. Damals wurde der Angriff auf den Rechtsstaat beschworen, tatsächlich aber schon die Kritik als Angriff auf den Staat gewertet.

Seit zwei Jahren geht es nun nicht mehr — wie am Rande der Demonstrationen gegen Nachrüstung und Atomkraftwerke — um Gewalt nur gegen Sachen. In Eberswalde läuft zur Zeit ein Prozeß gegen mehrere junge Männer, die einen Angolaner erschlugen, weil er schwarz war, weil er kein Deutscher war. Das war kurz nach der Wende. Das Erschrecken war gering, man hoffte auf einen Einzelfall. Dann begannen die Einzelfälle sich zu häufen. In Dresden wurde ein Schwarzer aus der Straßenbahn geworfen, in Berlin ein Vietnamese erstochen. „Fidschis klatschen“ hieß das, und der Rechtsstaat sah sich keineswegs gefährdet. Die Täter wurden ja verfolgt, manchmal auch erwischt — wenn denn die Polizei dazu in der Lage war. Da es ihr speziell in den neuen Ländern aber oft an personeller Ausstattung mangelte, sahen sich die Mörder von Vietnamesen und Schwarzen nicht zu besonderer Vorsicht genötigt. Eine vorübergehende Schwäche des Rechtsstaates eben.

Dann kam Hoyerswerda. Zum ersten Mal wurde die Überforderung des deutschen Rechtsstaates weltweit manifest. Wo der Staat wenige Jahre zuvor noch innerhalb von Stunden mühelos in der Lage gewesen war, den Rechtsstaat mit Tausenden von Polizisten am Bauzaun eines AKWs zu schützen, war nun der Schutz von Leib und Leben einer Gruppe von Menschen, die sich diesem deutschen Rechtsstaat immerhin anvertraut hatten, auch nach einer Woche noch nicht zu gewährleisten. Polizeitaktische Schwierigkeiten? Pannen, die halt manchmal vorkommen?

In der Nacht von Montag auf Dienstag eskalierten diese taktischen Schwierigkeiten und Pannen zum einsamen Höhepunkt in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Einem von Neofaschisten inspirierten Mob wird erlaubt, ein Wohn- und Flüchtlingsheim mit der Absicht in Brand zu stecken, die darin befindlichen Menschen zu ermorden. Der Rechtsstaat macht gerade Pause, weil ja auch Polizisten irgendwann mal eine Currywurst essen gehen müssen. Wäre es den Eingeschlossenen nicht in Selbsthilfe gelungen, sich zu retten, hätten wir jetzt wahrscheinlich Dutzende von Toten zu beklagen — Menschen, denen der Rechtsstaat ihre körperliche Unversehrtheit per Verfassung garantiert. Alles Pannen?

Angeblich funktionierte das Telefon nicht, der Wachwechsel klappte nicht und anderes mehr. Man muß diesen Fragen nachgehen, doch der eigentliche Grund für diese finale Abwesenheit des Rechtsstaates liegt ganz woanders. Wenn Bundesinnenminister Seiters, der ja in Rostock war, gewollt hätte, wären spätestens am Sonntag so viel BGS-Truppen in Lichtenhagen angerückt, daß sich kein Rechtsradikaler oder Neofaschist mehr hätte blicken lassen. Warum ist das nicht passiert? Es gibt darauf eine ganz klare Antwort. In Rostock wurde zwar der Rechtsstaat suspendiert, aber der Staat war im Verständnis der Mächtigen nicht in Gefahr. Ganz im Gegenteil, nach den Vorgängen in Hoyerswerda und jetzt in Rostock ist der Verdacht nicht mehr von der Hand zu weisen, daß mindestens ein Teil der politischen Elite dieses Landes die Bedrohung für den Staat vielmehr von den Flüchtlingen ausgehen sieht und die Neofaschisten als Ordnungsfaktor stillschweigend akzeptiert.

Wem das zu weit gehen sollte, muß sich vergegenwärtigen, wie die Politik ganz überwiegend auf Rostock reagiert. Da ist nicht von Kriminellen und Terroristen die Rede, und wenn Heiner Geißler fordert, die Täter wegen versuchten Mordes zu verfolgen, wirkt er bereits wie ein kompletter Außenseiter, der noch nicht verstanden hat, worauf es jetzt ankommt. Von Stoiber über Süssmuth bis Engholm ist vielmehr klar, was nun zu passieren hat: statt „keinen Zentimeter gegenüber dem Mob auf der Straße“ schnellstmögliche Veränderung des Grundgesetzes. Das brennende Flüchtlingsheim in Rostock markiert eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Seit dieser Nacht steht nicht nur das Grundrecht auf Asyl zur Disposition, sondern für bestimmte Leute auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Ein Bruch, der wohl erst im Rückblick in seiner ganzen Dimension erkannt werden dürfte. Jürgen Gottschlich