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Andreas Thom und die Nibelungen

Bayer Leverkusen — VfB Stuttgart 4:0/ Ein äußerst genial spielender Thom verwirrte den Meister  ■ Von Johannes Boddenberg

Leverkusen (taz) — Wo liegt das Ulrich-Haberland-Stadion in der Chemie-City Leverkusen? Am Rhein? Nein! Es liegt an einem anderen Fluß, besser gesagt: Flüßchen. Hinter der noch unbebauten Südkurve fließt die Dhünn. An der Einmündung dieses Wasserlaufes in den Rhein sollen nach neueren völkerkundlichen Forschungen die Nibelungen den deutschesten aller Flüsse überquert haben. Dies taten sie, um den Nibelungenschatz per Schiff zum Hort zu transportieren. Später wurde der Schatz vom Zwerge Alberich in den Rheinfluten versenkt. Noch später verschwanden die Nibelungen selbst in der Versenkung.

Kurt Vossen, der neue Fußball- Abteilungschef der Pharmazeuten, muß wohl an diesen germanischen Humbug gedacht haben, als er vor Beginn der Saison die Parole ausgab: „Wenn es nicht klappt, können sie uns auf einem brennenden Schiff die Dhünn runterjagen.“ Zwar ist die Dhünn bei gutem Wasserstand bestenfalls mit Paddelbooten zu befahren, aber mit diesem markigen Spruch wollte Vossen unisono mit Manager Reiner Calmund klarstellen, daß Bayer entweder bei der Meisterschaft, beim Pokal oder zumindest bei den UEFA-Cup-Plätzen mitzumischen hätte.

Eine Voraussetzung, um dem Nibelungen-Schicksal zu entgehen, wurde am Dienstag abend von den Chemikanten geschaffen. Vor 14.400 Zuschauern gelang ein überzeugender 4:0-Sieg gegen den Meister VfB Stuttgart. Zwar mußte der VfB auf den verletzten Maurizio Gaudino verzichten, aber dies reicht als Erklärung für die gelungene Bayer-Revanche nicht aus. Vor 100 Tagen hatte Guido Buchwald in Leverkusen den Alptraum der Bundesliga wahrgemacht. In der 87. Minute köpfte er die Schwaben zur Meisterschaft. Statt Borussia Dortmund oder Eintracht Frankfurt hieß der Champion VfB. Ausgerechnet VfB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder, CDU-Rechtsaußen und Busenfreund des Privatsenders SAT 1, rannte mit der Salatschüssel durch das Stadion.

Diesmal verlief alles anders. Zwar schaffte der VfB elf Eckstöße, Leverkusen dagegen nur vier, doch diese Überlegenheit der Stuttgarter blieb rein optischer Art. Schon in der 45. Sekunde erzielte Andreas Thom nach einer Blitzkombination mit Pavel Hapal das für Eike Immel unhaltbare 1:0. In der fünften Minute kam Thom nach einem Zuspiel von Lupescu erneut an den Ball und zog an Guido Buchwald vorbei. 2:0! Buchwald meinte dazu: „Daran war ich mitschuldig.“ Bis zur 30. Minute spielte eigentlich nur die Mannschaft mit dem Schriftzug eines Magenschmerzmittels auf dem Trikot. VfB- Trainer Daum erklärte: „Wir konnten die Spielkontrolle nicht an uns nehmen und spielten zu nervös.“ Dies lag daran, daß die Leverkusener bei der Manndeckung die Oberhand behielten, und da hießen die Punktsieger: Kree gegen Golke, Wörns gegen Walter, Fischer gegen Kögl und von Ahlen gegen Buck.

In der 62. Minute rannte Andreas Thom an Sverisson vorbei, und es stand 3:0. In der 64. Minute brachte Bayer-Coach Reinhard Saftig dann für Hapal den Ex-Bochumer Jupp Nehl, genannt „der Akademiker“. Dieser umkurvte drei Minuten später die resignierende VfB-Abwehr und stellte den 4:0-Endstand her. Damit war für beide Seiten ein Spiel gelaufen, das vor allem das Spiel des Andreas Thom war.

Was er an diesem Abend machte, war genial. Bundes-Berti Vogts bezeichnete es als „Weltklasse“, ausnahmsweise ist ihm zuzustimmen. Andreas Thom spielte nicht Fußball, er zelebrierte ihn. Er holte den Ball aus der Abwehr. Er stand frei und richtig im Mittelfeld. Er schlug unberechenbare Pässe. Er gewann einen Sololauf nach dem anderen. Er schoß, wo es ging, aufs Tor. Er erzielte drei Traumtore. Daum stellte zunächst Buchwald gegen ihn, das ging schief. Alle anderen Versuche, Thom aufzuhalten, auch. Andreas Thom bot an diesem Abend nicht Fußball, sondern Fußballkunst außerirdischer Qualität.

Zurück zu den irdischen Belangen: Wenn die Fußballabteilung der Bayer AG weiter so spielt und Schwächen im Mittelfeld abstellt, ist sie durchaus in der Lage, dem Nibelungenschicksal zu entgehen und oben mitzuspielen. Dazu verhelfen aber nicht große Sprüche à la Vossen und Calmund, die in Leverkusen — neben den erhöhten Eintrittspreisen — das Publikum nur verschrecken, sondern, so die Banalität der Realität, gute Leistungen auf dem Fußballplatz.

VfB Stuttgart: Immel - Dubajic (46. Knup) - Sverrisson, Schäfer - Buck, Buchwald, Strunz, Kögl, Frontzeck - Golke, Walter

Zuschauer: 14.400; Tore: 1:0 Thom (1.), 2:0 Thom (5.), 3:0 Thom (62.), 4:0 Nehl (67.)

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