Inge Viett muß dreizehn Jahre hinter Gitter

■ OLG Koblenz widersetzt sich „Lebenslang-Forderung“ der Bundesanwaltschaft/ Auch die ehemalige Aktivistin der Bewegung 2.Juni und der RAF profitiert von der Kronzeugenregelung/ Angeklagte erleichtert/ Neuer Prozeß wegen Lorenz-Entführung?

Berlin (taz/AP/dpa) — Sympathisanten quittierten das harte Urteil mit lautstarken Protesten und wurden von der Polizei unsanft aus dem Gerichtssaal befördert. Dreizehn Jahre soll Inge Viett, ehemaliges Mitglied der „Bewegung 2.Juni“ und der RAF, nach dem gestrigen Spruch des Oberlandesgerichts Koblenz hinter Gitter. Doch es hätte schlimmer kommen können.

Nach zweimaliger Verschiebung verurteilten die Richter die 48jährige DDR-Heimkehrerin gestern wegen versuchten Mordes an einem französischen Polizisten im Jahr 1981. Vom Vorwurf der Beteiligung am Attentat auf Nato-Oberbefehlshaber Alexander Haig zwei Jahre zuvor sprachen sie die Angeklagte frei. Aufgrund ihrer umfangreichen Aussagen zur sogenannten „RAF-Stasi- Connection“ Anfang der achtziger Jahre profitierte die Angeklagte, wie alle in der DDR festgenommenen RAF-Aussteiger, von der Kronzeugenregelung. Mit dem Urteil blieb das Gericht unter dem Antrag der Bundesanwaltschaft, die lebenslange Haft gefordert hatte.

Zwar habe Viett 1981 „gezielt und bewußt aus kurzer Distanz“ auf den Polizisten Francis Violleau geschossen, sagte der Vorsitzende Richter Joachim Vonnahme, dennoch lasse sich aus dem Tathergang nur ein bedingter Tötungsvorsatz ableiten. Mit „Heimtücke“, wie die Bundesanwaltschaft behauptet hatte, habe sie nicht gehandelt. Ebensowenig habe sich der Schuß aus Panik und eher „zufällig“ gelöst, wie Viett während des Prozesses beteuerte. Der Beamte hatte die Angeklagte verfolgt, als sie rechtswidrig ohne Helm mit dem Motorrad durch die Pariser City fuhr. Nach einer wilden Verfolgungsjagd hatte sie sich durch den Schuß vor der Festnahme gerettet. Violleau ist seitdem querschnittsgelähmt.

Im Fall des Haig-Attentats schenkte das Gericht den Aussagen des direkten Tatbeteiligten RAF-Gefangenen Rolf Clemens Wagner mehr Glauben als dem Aussteiger Werner Lotze. Lotze hatte sich erinnert, Inge Viett habe eine bei dem Anschlag benutzte Maschinenpistole aus den Beständen der „Bewegung 2.Juni“ beigesteuert. Wagner hatte dagegen uersichert, sie sei an dem Anschlag nicht beteiligt gewesen. Wegen „unüberwindbarer Zweifel“ entschied das Gericht in diesem Punkt auf Freispruch.

Auch in der Frage der Anwendung der Kronzeugenregelung, erlitt die Bundesanwaltschaft eine Niederlage. Die Ankläger Widera und Altvater hatten sich gegen ihre Anwendung ausgesprochen, weil Viett sich weigerte, ehemalige Genossen zusätzlich zu belasten. Das Gericht entschied sich, wie von der Verteidigung verlangt, für die Anwendung der umstrittenen Bestimmung — wenn auch „in begrenztem Umfang“. Viett-Verteidiger Nicolas Becker versicherte, seine Mandantin sei über das Urteil erleichtert. Sie habe die Chance, nach zwei Dritteln der Haft freizukommen. Wie auch die Bundesanwaltschaft behielt sich die Verteidigung allerdings vor, Revision gegen das Urteil einzulegen.

Ob sich die Hoffnungen auf ein absehbares Ende der Haft für Inge Viett erfüllen, entscheidet demnächst möglicherweise ein Berliner Gericht. Im März erhob die Staatsanwaltschaft der Hauptstadt eine weitere Anklage aufgrund ihrer Aktivitäten in der „Bewegung 2.Juni“. Die ehemalige Untergrund-Aktivistin soll unter anderem 1975 an der Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz beteiligt gewesen sein. Gerd Rosenkranz