Halberstadt — eine langsame Befriedung

Neonazis haben sich vorerst nach einjährigem Terror aus der Kreisstadt im Harz zurückgezogen/ Mit Streetwork gegen die Gewalt/ Arbeitslosigkeit, Altstadtruinen und Plattenbau begegnet die Stadt mit denkmalpflegerischen ABM-Maßnahmen  ■ Aus Halberstadt Heide Platen

Seit dem letzten Besuch ist ein knappes Jahr vergangen. Im August 1991 war Halberstadt, die Kreisstadt mit 45.000 EinwohnerInnen und in Sachsen-Anhalt am Rande des Nordharzes gelegen, eine Stadt in Angst. Skinheads und Neonazis hatten sie zu einer ihrer Hochburgen ernannt. Zwischen verrottenden, verfallenen Altstadtruinen und brutalem Plattenbau streunten Katzen, tobten sich Menschen verbal und handgreiflich ihre Aggressionen von der Seele. Und das ging vorwiegend gegen alles Abweichende, zum Beispiel gegen die Umwidmung der Volksarmeekasernen auf dem Spiegelsberg zum Auffanglager für Asylbewerber und gegen die bunthaarigen Jugendlichen, die sich in den Ruinen Zentrum und Wohnraum geschaffen hatten. Die „Glatzen“ terrorisierten fast ein Jahr lang, warfen Brandsätze gegen bewohnte Häuser, schlugen Passanten zusammen, verprügelten Asylbewerber.

Auf den ersten Blick scheint sich nicht viel geändert zu haben in Halberstadt. Am Bahnhof pöbelt ein dickbäuchiger Trunkenbold drei Afrikaner an, die gerade aus dem Zug steigen. Den Vorplatz ziert ein Hakenkreuz. Dieser erste Eindruck aber täte Halberstadt Unrecht. Die Stadt hat ihre Probleme wahrgenommen und gehandelt. Adelheid Heucke, Leiterin des Sozialamtes, bleibt trotzdem mißtrauisch und vorsichtig, meldet aber „auch nach Rostock“: „Die Neonazis sind ruhig in Halberstadt.“ Sie hofft, daß das aufwendige Langzeitprogramm von Aufklärung, Gesprächen, Jugendarbeit und Streetworking „vorerst“ Erfolg hat. Es habe allerdings „sehr lange gebraucht“, sich der Probleme bewußt zu werden und erste Kontakte zu den Jugendlichen herzustellen.

Der West-Import Ralf Abrahms, Leiter des Wirtschaftsdezernats, verstrahlt schon von Berufs wegen Optimismus. Die immer noch gespannte Atmosphäre unter den Menschen will jedoch auch er nicht übersehen wissen. „Aber“, versichert er, „die Stimmung ist schlechter als die Lage.“ Und die ist in der Region mit 17 Prozent Arbeitslosigkeit in der Tat schon beschissen genug. Abrahms sieht die Tendenz allerdings fallend. Er lädt zur Stadtrundfahrt mit vorrangiger Besichtigung der drei neu ausgewiesenen Gewerbegebiete am Stadtrand. Zwischen staubigen Baustellen und Feldern stehen die ersten Gebäude und Container neuangesiedelter Firmen. Es sei gelungen, vor allem mittelständische Unternehmen mit langfristiger Perspektive zu gewinnen — hier zwanzig neue Arbeitsplätze, da zehn, dort sogar siebzig. Abrahms rechnet die kleinen Zahlen akribisch zusammen. Um eine Straße, die der Treuhand gehört und trotz langer Verhandlungen bisher nicht freigegeben wurde, schert er sich gar nicht mehr. Abrahms lacht wie ein Harzer Eulenspiegel und deutet auf die Baumaschinen: „Wir bauen auf unserem Gelände genau daneben einfach eine neue Trasse!“ Ein Kleingartenbesitzer, der hartnäckig auf einen höheren Preis für sein Land spekulierte, wird einfach umbaut. Ein schwedisches Möbelhaus wird hier produzieren.

Die Silhouette der Stadt mit ihren trutzigen Kirchen, die seit dem Mittelalter im ehemaligen Bischofssitz so dicht nebeneinanderstehen, als wollten sie sich mit ihren grauen, mächtigen Steinschultern gegenseitig fortschieben, dem Dom und der Martinikirche mit den ungleichen Türmen soll nach seinem Willen nicht „verbaut“ werden. In der Altstadt steht dank der Ernennung Halberstadts zur denkmalpflegerischen Modellstadt in Sachsen-Anhalt an jeder dritten Fachwerk-Ruine ein Gerüst. Am Erholungs- und Tierpark in den Spiegelsbergen werkeln scharenweise ABM-Kräfte, setzen die alten Mauern neu, fassen Wege ein: „Da, wo sich die Menschen erholen, soll es wenigstens schön sein.“ Halberstadt ist, weiß auch Abrahms, ein finanzielles Faß ohne Boden. Es muß seine zweifache Zerstörung verkraften. Im April 45 legten Bombenflieger der amerikanischen Armee über 80 Prozent der Häuser in Schutt und Asche. Den Rest besorgte der reale Sozialismus, gegen den hier 1989 zwanzigtausend Menschen auf die Straße gingen.

Mit dem Füllen großer Fässer haben die Halberstädter allerdings Übung. 132.750 Liter Wein passen schließlich in das zweitgrößte deutsche Weinfaß, das im Kellergewölbe des Spiegelschen Jagdschlosses zu besichtigen ist. Abrahms träumt sich auf dessen Sonnenseite in die weitere Zukunft hinein einen Biergarten mit Schirmen, Tischen und Bänken und Blick über die Stadt: „Von hier aus sieht Halberstadt aus wie andere Städte auch.“ Auch dem Plattenbau in der Innenstadt wird zu Leibe gerückt — nicht ohne Seitenhieb auf die Betonbau-Sünden bundesrepublikanischer Machart. Farbe und postmoderne Erker und Giebel sind musterweise eingesetzt. Abrahms: „Das ist zwar Kosmetik, aber es nützt!“ Was Halberstadt eigentlich fehle, sei der alte Stadtkern: „Die Stadt hat noch kein richtiges Herz!“

Daß Herztransplantation, Kosmetik und Optimismus bei diesem Patienten nur sehr langsam wirken, weiß Sozialdezernentin Adelheid Heucke. Sie kennt die Menschen, ihre Sorgen und bremst deshalb: „Die Menschen haben die Umstellung bis heute noch nicht begriffen.“ Vor allem die Älteren seien verbittert über die zahlreichen Entlassungen und Firmenschließungen. Und, ist ihre Prognose, „das ist noch lange nicht vorbei“. Sie ist stolz darauf, daß den Neonazis Einhalt geboten werden konnte. Die Kombination von verstärktem Polizeieinsatz, einem eigenen Zentrum und intensivem Streetworking habe die „Szene befriedet“.

Im Jugendzentrum „Zora“ im Johanneskloster wird noch immer gemauert und geschreinert. Eine internationale Jugendgruppe baut gerade die Gartenmöbel. Im Hof sägt die ABM-finanzierte zehnköpfige „Baugruppe“ Balken für das Dach des Seitentraktes zu. Vor den Fenstern hängen immer noch die Drahtgitter, die vor den Brandsätzen der Neonazis schützen sollten. „Die würde ich“, sagt Bauleiter Ajax, „eigentlich gerne abnehmen. Aber die anderen wollen noch nicht.“ Nach dem letzten Herbst und Winter in Angst, nach Panikmeldungen in der Lokalzeitung ist die Beklemmung im Haus noch nicht ganz gewichen: „Seit zwei Monaten ungefähr ist Ruhe.“ Ajax nennt dafür mehrere Gründe. Zum einen konzentrieren sich in Halberstadt inzwischen mehrere SozialarbeiterInnen, davon zwei Streetworkerinnen, auf die Neonazis. Die Mittel stammen aus dem „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“. Die Neonazis haben, „obwohl die erst gar nicht wußten, was sie damit sollen“, ein eigenes Jugendzentrum bekommen und den Ausbau begonnen. Sozialdezernentin Heucke: „Da können die eben auch machen, was sie wollen. Wenn sie nicht gerade ein Waffenlager anlegen.“ Einige der Jung-Faschisten haben außerdem das öffentliche Friedensangebot der „Zora“ zu Gesprächen angenommen. Und dann, weiß Ajax, „haben die auch noch ihre eigenen Probleme“. Zum einen seien sie untereinander zerstritten. Ältere Jugendliche, die länger dabei waren, „die haben so viele Strafverfahren am Hals, daß sie sich nicht mehr trauen, noch einmal erwischt zu werden.“ Die würden der Randale gerne den Rücken kehren und sind „zur Zeit ganz friedlich“. Auf Keilereien aus sei eine andere Fraktion der Szene, die im Jugendzentrum nur „die Kiddies“ genannt werden — zwischen 14 und 17 Jahre alt und neu bei der Sache: „Das sind zur Zeit die, die die Gewalt wollen.“ Sie treffen sich ausgerechnet da, wo sich die Straße der Harmonie und die des Friedens treffen, am Käthe-Kollwitz-Platz. Von ihrer Anwesenheit zeugt an diesem Tag allerdings nur eine verwischte Odalsrune auf einem Papierkorb. Auch Übergriffe auf Asylbewerber hat es in den letzten Wochen nicht mehr gegeben. Die Neonazis haben sich nach dem „Schulterschluß aller Liberalen in der Stadt“, so Ajax, „nachdem endlich was getan wird“, andere Orte ausgesucht. Im benachbarten Wernigerode fanden sich zum Sommeranfang „600 bis 1.000 Glatzen“ völlig überraschend zu einem als Geburtstagsfeier getarnten Konzert ein: „Die treiben jetzt da und in Quedlinburg ihr Unwesen.“ Denn: „Da werden sie weniger kontrolliert.“ Doch auch dort regt sich langsam Widerstand. Etliche Jugendliche blockierten das Landratsamt in Quedlinburg und forderten eine konsequente Jugendpolitik gegen Gewalt. Vorerst bekamen sie zu hören, daß sich das Landratsamt nicht mit „randalierenden Randgruppen“ befasse. „Hoffentlich wird das da“, wünschen die Halberstädter Jugendlichen, „jetzt nicht wie bei uns vor einem Jahr. Das war die Hölle!“