Das Wahlkonzert im Libanon wird von Damaskus dirigiert

■ Die Motive prominenter christlicher Politiker, die Wahlen zu boykottieren, sind verschieden — gemeinsam ist ihnen jedoch die Angst um den Verlust ihrer Vormachtstellung

Der Disput um die Wahlen im Libanon ist vielschichtig. Trotz der Einigkeit, die die libanesischen Christen mit ihrem Wahlboykott demonstrierten, sind Pro- und Contra-Lager keineswegs klar auszumachen. Doch eins haben ihre Politiker gemeinsam: die Angst um den Verlust ihrer Vormachtstellung. Die starke Position der Christen geht auf einen Kompromiß zurück, den die Führer der großen islamischen und christlichen Religionsgruppen im Jahr der Unabhängigkeit des Libanon 1943 unter französischem Druck geschlossen haben; die Bevölkerung des Libanon besteht aus Drusen, Katholiken, Sunniten, Schiiten, Maroniten, Alawiten, Armeniern und weiteren kleinen Konfessionsgruppen. Die französischen Kolonialherren hatten sich durch systematische Bevorzugung der maronitischen Christen einen zuverlässigen, frankophilen Bündnispartner geschaffen.

Als sie abzogen, legten sie die Wahrung ihrer Interessen in die Hände dieser christlichen städtischen Elite. Auf der Basis eines Quotierungssystems, das den Zugang der verschiedenen Religionsgruppen zu den politischen Ämtern regelt, waren es die Christen, die die Schlüsselpositionen des jungen Staates übernahmen. Die Führer der großen islamischen Bevölkerungsgruppen mußten diese Regelung akzeptieren, um die Unabhängigkeit des Libanon nicht aufs Spiel zu setzen. Die Einbindung der ethnisch-religiösen Gruppierungen in ein nachkoloniales politisches System mißlang, zahlreiche Krisen und schließlich ein jahrezehntelanger Bürgerkrieg waren die Folge. Grundkonflikt war stets die Legitimität des Quotierungssystems. Und ein neues System ist auch jetzt nicht in Sicht.

Nach wie vor müssen der Präsident ebenso wie der Oberkommandierende der Armee maronitische Christen sein. Außerdem ist die Hälfte der Parlamentssitze christlichen Abgeordneten vorbehalten. Die letzte Volkszählung fand vor gut fünfzig Jahren noch unter französischer Kontrolle statt; ihr zufolge waren die Maroniten in der Mehrheit. Unterschiedlichen Quellen zufolge sind heute etwa 35 Prozent der Libanesen Christen, 25 Prozent sind Maroniten, 10 Prozent gehören zu anderen christlichen Kirchen. Die Maroniten hielten ihre Vormachtstellung zunächst im Rahmen eines Bündnisses mit der städtischen sunnitischen Mittelschicht aus Händlern und Kaufleuten. Die Sunniten sind es auch, denen nach dem Quotierungssystem der „zweite Rang“ im politischen Gefüge zusteht. Der Ministerpräsident muß ein Sunnit sein, auch die meisten zweithöchsten Posten im Staatsapparat sind mit Sunniten besetzt.

Schiiten und Drusen sind „Ausgestoßene“

Die Schiiten hingegen, mit 35 Prozent der Bevölkerung die größte religiös-homogene Gruppierung, spielen im institutionellen Gefüge des nachkolonialen Libanon nach wie vor eine marginale Rolle. Sie leben in den Dörfern und in den städtischen Slums. Insbesondere in Beirut ist die Mehrheit der Slumbewohner schiitisch; sie verrichten die schlechtbezahlten und schmutzigen Jobs im Libanon, in ihren Wohngebieten fehlt es an den elementarsten Dingen wie Strom, Wasser, Schulen und Gesundheitsversorgung.

Die zweite Gruppe der Mahroumin, „Ausgestoßene“ genannten Libanesen sind die Drusen, die eine besondere mystisch-religiöse Tradition haben. Sie leben in den Bergen. Ein drusischer Journalist bringt ihr Dilemma auf den Begriff: „Die Christen im Libanon werden vom Westen unterstützt, die Sunniten von Saudi- Arabien. Die Schiiten haben immerhin den Iran, aber wir Drusen haben niemanden, der sich um unsere Belange kümmert.“ Dieses internationale Klientelsystem ist auch der Grund, weshalb Schiiten und Drusen im Bürgerkrieg besonders aktiv waren. Sie kämpften um eine Änderung ihres Status, sie wollten „ihren Teil vom Kuchen“ abbekommen.

Die innenpolitischen Komplikationen im Libanon wurden durch die geographische Lage des Landes „zwischen den Fronten“ verschärft. Die palästinensischen Flüchtlinge — heute sind es 350.000 — machten das kleine Land seit 1948 zu einer der wichtigsten Kampfarenen im israelisch-arabischen Konflikt. Bis zum israelischen Einmarsch im Libanon 1982 hatte die PLO ihr Hauptquartier in Beirut. Syrien und Israel haben das Land seither durch Besatzung untereinander aufgeteilt und versucht, der politischen und militärischen Präsenz der Palästinenser im Libanon ein Ende zu machen. Israel unterstützte zeitweise die Christen, zeitweise die Schiiten. Die PLO paktierte mit verschiedenen islamischen Gruppierungen, Syrien unterstützte einmal die Christen gegen die Moslems, ein andermal die Moslems gegen die Christen. Aus syrischer Sicht sollte keine libanesische Gruppierung die Vormachtstellung erringen — sondern Damaskus.

Der Krieg im Libanon war ein Krieg um den Libanon und wird jetzt mit den Mitteln der Politik und des Wahlbetrugs weitergeführt. Die Libanesen haben dabei wenig Einfluß auf ihr zukünftiges Geschick. Das Abkommen, das die Führer der Bürgerkriegsparteien vor drei Jahren in der saudischen Stadt Taif abgeschlossen haben, beendete im großen und ganzen den Bürgerkrieg. Doch der Versuch der praktischen Umsetzung des Abkommens ist der Grund für die jetzige politische Krise. In Taif einigte man sich auf die Abhaltung der jetzigen Parlamentswahlen und auf die Umgruppierung der syrischen Besatzungstruppen, die aus dem Kernland um Beirut abziehen und ausschließlich im Osten des Landes stationiert werden sollten. Syriens Präsident Assad wollte die Wahlen jedoch vor einer Umgruppierung der Truppen durchführen; massive militärische Präsenz sollte einen Assad genehmen Ausgang des Urnenganges sicherstellen.

„Diese Wahlen werden über die Zukunft des Libanon bis ins Jahr 2001 entscheiden“, sagte ein Politiker aus dem schiitischen Lager, „denn das neugewählte Parlament wird bis zum Jahre 1996 im Amt bleiben, und 1995 wird der neue Präsident gewählt. Die syrische Regierung will sicher sein, einen starken Einfluß im Parlament zu haben, damit ein Kandidat ihrer Wahl die Präsidentschaftswahlen gewinnt. Da wir im Libanon ein Präsidialsystem mit weitgehenden Vollmachten für den Präsidenten haben, ist die Kontrolle über ihn auch eine Kontrolle der libanesischen Politik.“ Die syrische Regierung könne die Wahlergebnisse zwar nicht direkt fälschen, erklärte der Politiker, doch könne sie das Ganze durch massive Einflußnahme dirigieren, vor allem durch Einmischung bei der Aufstellung der Listen. Durch Druck auf einzelne Politiker hätten die Syrer ja bereits während der ersten Wahlrunde in der Bekaa-Ebene erreicht, daß Kandidaturen zurückgezogen wurden.

Von einer Einheitsfront der Christen gegen diesen Versuch der syrischen Einflußnahme zu sprechen wäre verfehlt; die Interessen der Christen sind zu heterogen. Unter ihren prominenten Politikern erhob lediglich der vor 20 Monaten von der syrischen Armee aus dem Präsidentenpalast vertriebene General Aoun grundsätzliche Einwände gegen die Wahlen: Solange fremde Truppen den Libanon besetzt hielten, könnten im Libanon keine freien Wahlen abgehalten werden, argumentierte er. In den Augen der libanesischen Wähler gilt Aoun als einer der wenigen „sauberen“ Politiker. Aus diesem Grunde genießt er nicht nur die Unterstützung vieler Christen, sondern auch von Sunniten, vor allem in Beirut. Aoun war es auch, der andere christliche Politiker gezwungen hat, die Wahlen zu boykottieren. Für seinen Rivalen, den Maroniten Samir Geagea, sah die Sache ganz anders aus: Er wollte die Wahlen abhalten, doch wußte er genau, daß er im Falle wirklich freier Wahlen zu den Verlierern gehören würde. Vor allem darum mobilisierte er seine Leute gegen die Wahlen.

Gegen die Regierung und gegen die Opposition

Der Vorsitzende der christlichen Falangistenpartei, George Saade, hingegen wollte sich an den Wahlen beteiligen, zog seine Kandidatur aber angesichts des großen Widerstandes unter den christlichen Wählern wieder zurück. „Die Christen haben einen großen Fehler gemacht“, sagt ein sunnitischer Politiker, „sie haben ihren Wahlboykott ohne Rücksprache mit uns begonnen. Viele Moslems, und insbesondere die Sunniten hätten es vorgezogen, wenn alle Fraktionen vor den Wahlen zu einem Konsens gefunden hätten. Jetzt haben die Christen einen Alleingang gemacht und sich damit in die Rolle der Opposition gebracht, noch bevor in den Wahlen entschieden wurde. Die meisten Sunniten unterstützen die Wahlen jetzt doch.“ Einzig der frühere Ministerpräsident, der im Exil lebende Saeb Salam, ist im sunnitischen Lager offen gegen die Wahlen aufgetreten. Doch der starke Mann der Sunniten, Salim Al Hoss, hat sich mit Erfolg an den Wahlen beteiligt; er führte seinen Wahlkampf unter dem Motto: gegen die Regierung und gegen die Opposition.

Unter den Schiiten waren die Positionen ähnlich unklar wie bei den Sunniten: Die als korrupt und prosyrisch geltende Amal, die mit Nabi Berri in der noch amtierenden Regierung vertreten ist, befindet sich in einem ähnlichen Dilemma wie Samir Geagea. Amal mußte den syrischen Zeitplan für die Wahlen unterstützen, fürchtete aber, viele schiitische Stimmen an die proiranische Hizballah zu verlieren. Daher machten Teile von Amal dennoch gegen die Wahlen mobil. Hizballah dagegen warnte vor einem Absetzen der Wahlen: „Wir sind nicht die FIS, und der Libanon ist nicht Algerien“, erklärte Sheikh Kawuki, ein Mitlgied der Hizballah-Parteiführung. Hizballah hat es in den letzten Monaten geschafft, sich als politische Partei zu profilieren. Daß sie nach wie vor mit bewaffneten Kommandos gegen die israelische Besatzungsmacht im Südlibanon vorgeht, erhöht nur ihre politische Glaubwürdigkeit. Mit Geldern aus dem Iran haben sie in den Zeiten des Bürgerkrieges viel für die sozialen Belange der armen schiitischen Bevölkerung getan. „Wir wollen keinen islamischen Staat im Libanon“, erklärte Ibrahim Al-Amin, der Hizballah-Spitzenkandidat in Baalbek. „Der Libanon muß allen Libanesen gehören, nicht einer Handvoll korrupter Politiker und Diebe.“ Auf der Liste von Hizballah in Baalbek kandidierten nicht nur Schiiten, sondern auch Christen und Sunniten.

Ähnlich wie Hizballah sehen sich auch die Drusen eher auf der Seite der Gewinner und sind daher bei aller Kritik nicht in einen Boykott eingetreten. „Diese Wahlen sind ein Skandal“, sagte der Drusenführer Dschunblat. „Sie werden uns womöglich in einen Staat führen, in dem nurmehr der Geheimdienst und die Militärs das Sagen haben. Wir werden von außen kontrolliert, der Libanon ist eine Bananenrepublik geworden.“