Wir sind ein Teil des Okzidents

Der libanesische Dichter Adonis über das politische Exil, das Exil in der Sprache, den Fall Rushdie und die Rolle der Intellektuellen in den arabischen Ländern  ■ Ein Interview von Hassouna Mosbahi

Adonis, Sohn armer Bauern, wurde 1930 als Ali Ahmed Said in einem kleinen Dorf nahe der syrischen Hafenstadt Latakiya geboren. Schon als Kind begeisterte er sich für die Sprache des Koran, die klassische arabische Dichtung — aber auch für die Dichter der europäischen Romantik. 1955 verließ er seine erste Heimat, ging nach Beirut und nahm die libanesische Staatsbürgerschaft an. Früh hatte er beschlossen, „anders“ zu sein — nämlich ein Poet der Unbehaustheit und des Exils: der Unbehaustheit in Sprache, Geschichte und Kultur — des Exils im eigenen Land. In Beirut nahm er seinen Dichter-Namen Adonis an, um, wie er einmal schrieb, „der Welt des Islam einen Abglanz jenes heidnischen Gottes aufzuzwingen, der starb und wiederauferstand — Symbol eines trans-temporalen Orients, eines Orients, der vorchristlich, vor- islamisch und gleichwohl post-nietzscheanisch ist“.

1957 gründete er die berühmte Literatur-Zeitschrift Sh'ir (Poesie), die bahnbrechend wurde für die moderne arabische Lyrik. Seit 1968 gibt Adonis seine eigene Literatur-Zeitschrift Mawaqif (Standpunkte) heraus. Sie wurde in kurzer Zeit zur literarischen Plattform eines ungewöhnlichen sprachlichen Aufschwungs — ein Forum der Freiheit und des Wandels innerhalb der arabischen Welt, das alle progressiv-kreativen Kräfte um sich scharte. Seit 1988 erscheint Mawaqif in London. Adonis, der seit 1984 in Paris lebt (und selbst in viele Sprachen übersetzt ist), hat sich vor allem auch als Übersetzer großer Werke der Weltliteratur einen Namen gemacht — vor allem der Poesie Rimbauds, Baudelaires und Rilkes und der Surrealisten um André Breton. 1969 veröffentlichte Adonis seine berühmte Doktorarbeit mit dem Titel „Das Veränderliche und das Beständige in der Geistesgeschichte des Islam“. Wegen dieser radikalen Islam-Kritik wurde er in Beirut vor Gericht gestellt. Das Buch ist bis heute in der arabischen Welt verboten.

Hassouna Mosbahi: Drei Dinge lasten auf dem arabischen Intellektuellen, von denen er sich nur schwer befreien kann: zunächst der Clan, die Familie, dann sein Heimatland und schließlich die Kultur und Tradition, die ihm von allen dreien vermittelt wird. Sie haben ein dreifaches Exil gewählt. Sie haben den Namen Ihres Clans, Ihrer Familie abgelegt und wählten den Dichter- Namen „Adonis“. Sie haben eine andere Nationalität angenommen, nämlich die libanesische, und schließlich haben Sie sich in gewissem Sinne auch von der arabisch-islamischen Kultur befreit, die — in ihren wesentlichen Zügen — eine patriarchalische ist. Wie empfinden Sie dieses dreifache „Exil“?

Adonis: Sie gestehen mir zu, von drei Dingen Abschied genommen zu haben, die nur sehr schwer zu überwinden sind. Das weiß ich zu schätzen. Ich war von Anfang an entschlossen, diesen Weg zu gehen. Im Grunde habe ich das Gefühl, als ein „Exilierter“ oder „Verbannter“ geboren zu sein — aus mehreren Gründen, die ich jetzt nicht näher beschreiben kann. Die drei Dinge, von denen Sie sprechen, waren nichts anderes als Zeichen und Symbole in einem Leben. Aber das „dreifache Exil“, von dem Sie sprechen, ist ja nur ein „äußeres“ — nämlich das Exil im Namen, in der Heimat und in der Kultur. Aber das eigentliche, das tiefste und einschneidendste Exil ist das des Bewußtseins und der Seele — nämlich das Exil in sich selbst und in der Sprache, mit der du deinen Schmerz ausdrückst. Und es ist dieses schmerzliche innere Exil, das mich ständig beschäftigt und zur Kreativität zwingt. Ich habe ständig das Gefühl, außerhalb meiner selbst zu sein, auf der Suche nach „dem Anderen“ — gleichermaßen als wäre dieses „Andere“ mein mögliches oder zukünftiges „Ich“. Aber dieses „Andere“ existiert nur theoretisch. Und dieses Exil kommt nicht aus der Vergangenheit. Es ist vielmehr ein Verborgenes, das dich — wo immer du dich hinwendest und in jeder Falte der Zukunft — erwartet.

Die abgründige Tiefe dieses Exils

Das andere Exil ist das der Sprache, in der ich mich ausdrücke und das ich so beschreiben würde: Jedesmal, wenn Du glaubst, etwas gesagt zu haben, hast Du gleich hinterher das Gefühl, letzten Endes gar nichts gesagt zu haben. Es ist ein ständiges Ringen mit der Sprache, du bist ständig auf der Flucht, und die Sprache ist nicht in der Lage, diese Flucht aufzuhalten. Dieses „Exil“ ist viel schwieriger, viel bitterer als das, was ich als „äußeres Exil“ bezeichnet habe. Aber es ist gleichzeitig das Leben selbst. Die abgründige Tiefe dieses Exils zu erkennen, ist eine Ekstase, in der das Leben und der Tod einander berühren. Es ist die Ekstase der Liebe, des Orgasmus, wenn Sie so wollen...

Adonis ist vor allem als der orientalische Dichter „Mihyar der Damaszener“ bekannt, mit dem er sich in seiner Poesie identifiziert. Und plötzlich befindet sich dieser „Mihyar“, der sich viel mehr für die vergangenen und modernen orientalischen „Feuersbrünste“ interessiert — in Paris. Wie erlebt dieser „Mihyar“ die Tragödie dieses Exils, das die aschgraue Farbe des Westens hat?

Man darf nicht vergessen, daß ich den größten Teil meines Gedichtbandes „Mihyar der Damaszener“ oder die Lieder Mihyars 1960 in Paris geschrieben habe. Denn damals wurde mir zutiefst bewußt, daß das Exil immer das gleiche ist — eben weil es für mich immer ein inneres ist. Der Unterschied liegt also im Grad und nicht in der Art des Verbanntseins. Mein Leben hier in Paris in den letzten Jahren brachte mir diese Tragödie erst richtig zum Bewußtsein — aber ich möchte es eigentlich nicht als Tragödie bezeichnen, es ist vielmehr diese Leere, die von der Technologie, der Wissenschaft und dem Wohlstand verdeckt wird. Diese Leere ist die Folge eines übertriebenen Rationalismus, die die Dimension des Mythos zugunsten des Logos zurückgedrängt hat. Diese kodifizierte Rationalität hat die menschliche Existenz ärmer gemacht, indem sie alles zerstörte oder zurückdrängte, was in den Bereich des Mythos, des Traums und der Einbildungskraft — der Phantasie — fällt. Aus diesem Grund ist das menschliche Leben so nüchtern, so oberflächlich, so vernunftbetont geworden — wie eine Wüste.

Im Spannungsfeld dieser beiden Dimensionen des Lebens, die sich ständig gegenseitig abstoßen und miteinander ringen, habe ich manchmal das Gefühl, zu explodieren. Wenn mir gelegentlich die rational- technische Dimension auf die Nerven geht, so flüchte ich mich in die mythologisch-irrationale, die es hier nicht gibt, und dann habe ich das Gefühl, wieder zur „normalen“, nämlich in die rationale zurückkehren zu müssen. Es ist letzten Endes der Versuch, diese beiden Ebenen miteinander zu versöhnen, denn die rational- logische existiert ja in unserer orientalischen Kultur so gut wie nicht. Und dieser Versuch der Versöhnung kommt mir manchmal vor, als wolle einer Tag und Nacht miteinander vermischen.

Die arabischen Schriftsteller haben seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts bis heute mehrere Arten von Exil durchlebt. Am Anfang war es das Exil der Entdeckung des Okzidents und die Hoffnung, eine neue arabische Gesellschaft aufzubauen. Die Intellektuellen jener Periode haben davon geträumt, die arabische Welt von Unwissenheit und Rückständigkeit zu befreien. Diese Hoffnungen wurden wenige Jahre nach der Unabhängigkeit aller arabischen Staaten bitter enttäuscht, denn die neuen arabischen Regimes zwangen die Intellektuellen ein zweites Mal, in den Westen auszuwandern. Man könnte dieses Exil ein Exil der Bitternis und der Verzweiflung nennen. Wie beurteilen Sie dieses neue Exil?

Es ist das Exil des Scheiterns, der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Aus diesem Exil wird nichts hervorgehen, was die arabische Kultur erneuern und bereichern könnte. Denn dieses Exil ist meiner Meinung nach die Fortsetzung dessen, was sich in unseren jeweiligen Ländern abspielt — es ist nichts Eigenständiges, Losgelöstes. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten, daß die Schriftsteller und Intellektuellen, die hier leben, keinen wirklichen kulturellen Bruch mit ihren Ländern vollzogen haben. Und ohne eine solche kulturelle und intellektuelle Loslösung, einen solchen Bruch kann man nicht von einer Erneuerung reden. Es ist ein steriles Exil — sowohl im politischen als auch im gesellschaftlich-kulturellen Sinne. Es läuft im Grunde genommen darauf hinaus, daß sich die Araber — und besonders die arabischen Intellektuellen — immer auf etwas hinausreden, was außerhalb ihrer selbst vor sich geht. Sie sind nicht in der Lage, „ich“ oder „wir“ zu sagen — es sind immer die „anderen“, die für seine Handlungen oder Fehler verantwortlich gemacht werden.

Kein wirklicher Schritt in die Moderne

Im Westen dagegen gibt sich der Mensch über seine Handlungen, Unterlassungen und Schritte selbst Rechenschaft ab. Solange die Araber dazu nicht imstande sind, bleiben sie immer Sklaven der anderen, vermeintliche Opfer und Gefangene von Gesetzen, die nicht ihre eigenen sind. Dies ist die eigentliche Erklärung für die Unfähigkeit der arabischen Welt, sich zu modernisieren, für die Tatsache, daß die arabische Welt in allen Bereichen bis heute nicht den Schritt in die wirkliche „Moderne“ getan hat. Und ich glaube, daß eine kulturelle, politische und gesellschaftliche Erneuerung so lange nicht stattfinden wird, solange die arabisch-islamische Welt ausschließlich von der „Kultur“ der Religion beherrscht wird.

Sie haben in Ihren Gedichten immer von der „schönen Zerstörung“ gesprochen. Damit knüpfen Sie an die klassischen griechischen und arabischen Dichter an, die in ihrer Dichtung immer eine bessere Zukunft nach der großen Katastrophe angekündigt haben. Warten Sie nach wie vor auf diesen Moment der „schönen Zerstörung“, in dem für die arabischen Massen die Freiheit, die Gleichheit und der Friede verkündet wird?

Für mich tritt alles Neue, alles Schöne aus Katastrophen, Leiden und Zerstörung hervor. Aber diese Zerstörung, derer die arabische Welt dringend bedarf, liegt noch in weiter Ferne angesichts der ungeheuren Schwierigkeiten, die wir im Augenblick erleben. Die arabische Welt kommt mir vor wie ein riesiger Felsen, der — trotz der offensichtlichen Zermürbung — eine unglaubliche Kraft besitzt, das hinauszuzögern, was ich als Dichter „la belle destruction“ — die schöne Zerstörung — nenne. Das einzige, was ich hoffe, ist, daß die wirklich schöpferischen Menschen, die an dieser „schönen Zerstörung“ arbeiten, irgendwelche Schlupflöcher finden werden, die es ihnen ermöglichen, diesen riesigen Körper — nämlich die arabische Welt — zu unterwandern.

Der Fall Rushdie: ein alter Konflikt

Seit der Affäre Rushdie ist viel von dem problematischen Verhältnis zwischen Islam und Literatur die Rede. Was denken Sie persönlich darüber?

Sie wissen, daß die Affäre Rushdie in der Geschichte des Islam durchaus kein Einzelfall ist. Schon in der Vergangenheit wurden zahlreiche Denker, Dichter und Schriftsteller Opfer von Repressionen, und auch damals ist man vor Todesurteilen nicht zurückgeschreckt. In Anbetracht der Tatsache, daß die Fundamentalisten momentan auf dem Vormarsch sind, glaube ich, daß es auch in Zukunft wieder zu heftigen Konflikten zwischen Islam und Literatur kommen wird. Alle freigeistigen Intellektuellen werden mit großen Gefahren zu kämpfen haben, denn in den Köpfen der Fundamentalisten ist kein Platz für Dialog und Freidenkertum. Der Okzident trägt Mitverantwortung an der unerträglichen Situation der arabischen Intellektuellen, denn mit seiner anti-islamischen Haltung leistet er der fundamentalistischen Bewegung entscheidenden Vorschub.

Wie beurteilen Sie die Rolle des arabischen Intellektuellen im Augenblick?

Damit der Intellektuelle überhaupt eine Rolle in seiner Gesellschaft spielen kann, muß er meiner Meinung nach erst einmal die Möglichkeit haben, zu reden und die Freiheit, zu denken — nämlich über alle Probleme, die sich einer Gesellschaft stellen. Und da dies alles in der arabischen Welt so gut wie unmöglich ist, wäre es mehr oder weniger deplaziert, von der „Rolle“ des Intellektuellen zu reden.

Ich würde meinerseits gerne die Frage stellen, die mir zum Verständnis der Situation als wichtig erscheint: Spielt die „Kultur“ selbst in der arabischen Welt eine „Rolle“ im westlichen Sinne des Wortes? Eine genauere Analyse der jüngsten Vergangenheit macht deutlich, daß die arabische Kultur — und zwar im tatsächlichen, tiefen Sinn des Wortes, das heißt im westlichen Sinne des Wortes — überhaupt nicht existiert. Die arabische Kultur ist meiner Meinung nach immer das Anhängsel irgendwelcher offiziellen Organisationen. Sie beschäftigt sich mit Dingen, die nicht zu den eigentlichen Problemen unserer Zeit gehören, mehr oder weniger religiöse Dinge.

Um auf den zweiten Teil Ihrer Frage zu antworten: Was die Beziehung zwischen den Intellektuellen und den Massen angeht — da stehe ich als Dichter auf der Seite des arabischen Volkes. Meine Heimat ist nicht von der Geographie bestimmt. Meine Heimat ist die Sprache, in der ich schreibe. Natürlich schmerzt es mich zu sehen, daß ich für das arabische Volk nichts tun kann, und ich leide darunter sehr — aber das ist die Realität. Und diejenigen unter den arabischen Intellektuellen, die unentwegt von den Massen sprechen, haben nie etwas für sie getan. Es sei denn, sich auf die Seite der politischen Regimes zu stellen, die sie unterdrücken und ihre Hoffnungen auf Freiheit und Demokratie auszulöschen.

Einige arabische Intellektuelle sprechen von einem Gegensatz zwichen Orient und Okzident, der durch eine neue Solidarität im Bereich des Denkens und der Kritik überwunden werden müsse. Wie denken Sie über diesen Konflikt?

Man kann weder den Orient noch den Okzident als eine geschlossene Einheit betrachten. Im Okzident ist vieles vom Orient enthalten — und umgekehrt. Der wirtschaftliche, politische und militärische Okzident unterhält hin und wieder sehr enge Beziehungen mit arabischen Regimes, die beispielsweise nicht einmal die elementarsten Regeln der Demokratie einhalten und nicht einmal die mindesten Freiheits- und Menschenrechte respektieren. Als Intellektuelle lehnen wir eine solche Beziehung ab, in der wir nur die Fortsetzung des Kolonialismus sehen. Was den kreativen, phantasievollen Okzident betrifft — den Okzident der Philosophie, der Demokratie, der Meinungsfreiheit —, so können und müssen wir als arabische Intellektuelle für uns in Anspruch nehmen, daß auch wir Teil dieses Okzidents sind. Nur auf dieser Ebene kann ein Dialog zwischen Orient und Okzident stattfinden, der Erfolg haben soll. Wir können uns als Araber nur selbst kennenlernen durch den anderen — das heißt durch den Okzident. Dies setzt freilich voraus, daß dieser Okzident bereit ist, uns zu akzeptieren und uns alle seine Freiräume zu öffnen. Als Dichter, der im Exil lebt, glaube ich fest an diesen Dialog mit dem Okzident, denn er ist die einzige Möglichkeit, der arabischen Kultur eine neue Dynamik zu verleihen — und auch der europäischen.

(Deutsch von

Susanne Hausburg-Mosbahi)

Hassouna Mosbahi, geboren 1950 in Tunesien, lebt in Tunesien. Auf deutsch liegen sein Novellenband „So heiß, so kalt, so heiß“ (Eichborn- Verlag) vor. Zusammen mit Erdmute Heller bereitet Mosbahi ein Buch über „Erotik und Sexualität im Islam“ vor.