Alle warten auf das Wunder von Halle

Die ostdeutsche Chemieindustrie soll erhalten bleiben — aber ein Konzept dafür fällt niemandem ein  ■ Aus Halle Erwin Single

„Daß die ehemalige DDR-Chemie heute nicht ohne massive Hilfe auf den Weltmärkten konkurrieren kann, ist gewiß nicht die Schuld der Menschen, die hier arbeiten und leben. Und sie können sich heute darauf verlassen, daß diese Region Unterstützung und Hilfe erhält. Die Standorte Leuna, Bitterfeld und Wolfen bleiben als Standorte erhalten.“ Die frommen Kanzlerworte von vor einem Jahr hat im Kreis Halle bis heute niemand vergessen. In der wohl kaputtesten Industrieregion Westeuropas werden die Sätze auf fast jeder Versammlung zitiert, um sich gegenseitig Mut zu machen. Den brauchen die Menschen hier auch, denn noch immer dämmert der Kern der früheren Chemiekombinate unter Treuhand-Regie vor sich hin, und das vom Kanzler versprochene Wunder von Halle läßt weiter auf sich warten.

Das Chemiedreieck, eingepfercht zwischen Saale, Dübener Heide und der Autobahn Leipzig-Berlin, leidet unter einem industriellen Syndrom. Die Zeiten des ewig grauen Himmels und der beißenden Luft über der Region sind nun vorbei, doch dafür liegt die Industrielandschaft in Trümmern. Auf den kilometerweiten Geländen der restlos veralteten Chemiewerke türmen sich vergessenes Baumaterial, ausgebrannte Lagerhallen, verrottete Rohrgestrüppe und haufenweise Schrott zu surrealistischen Gebilden auf. In Buna, sieben Kilometer nördlich von Halle, haben die Plankommissare noch tonnenweise Klarschlamm, Asche und Müll dazugeworfen.

„Da helfen nur noch die Bulldozer“, bekennt Gerhard Dohl. „Welcher Kapitalist will hier schon den Retter spielen, wenn er nicht einmal die Abrißkosten kennt?“ Fast fünfzehn Jahre lang hat der Chemiefacharbeiter in Buna „Plaste und Elaste aus Schkopau“ aus Unmengen von Kohle und Kalk hergestellt. Seit der Wende ist er Frührentner. 27.700 Beschäftigte zählte der Kunstoffproduzent damals, heute sind es noch knapp 8.000. Von der IG-Farbenindustrie 1936 aus rüstungswirtschaftlichen Gründen aus dem Boden gestampft, wuchs das Werk bald zum wichtigsten ostdeutschen Plastik-, PVC- und Kautschukproduzenten heran. Als Ausgangsstoff für die Acetylenherstellung wurde jahrzehntelang Carbid gebrannt und in die Luft gepustet. In Schkopau läßt sich der weißgraue Dreck noch heute von den Dächern kratzen. Was in den zwölf Buna-Öfen übrigblieb, wurde auf das 900 Hektar große Firmengelände gekippt — eine gigantische Altlast, die jeden Käufer abschreckt.

Das Gift zeigt seine Wirkung. Dutzende von West-Managern haben seit der Wende eines der vielen Gerüste erklommen, um einen Blick auf die Firmenanlagen zu werfen — und sind dann mit unverbindlichen Absichtserklärungen wieder abgezogen. Einige Übernahme-Aspiranten deuteten ihr Interesse an einer Zusammenarbeit „auf technischem, wirtschaftlichem und ökologischem Gebiet“ nicht zuletzt deshalb an, um an lukrative Bauaufträge zu gelangen. So erhielt die Veba, deren Tochterunternehmen Chemische Werke Hüls zu den heißesten Buna-Interessenten zählte, einen Milliardenauftrag für ein 1.300-Megawatt-Kraftwerk. Bei einer Beteiligung schließlich winkte Hüls ab. Nein danke, Umweltschäden, Sozialpläne, das alles könne einem Investor doch nicht aufgebürdet werden. Auch andere westdeutsche Chemiegiganten fanden wenig Gelüste an den dahinsiechenden Kernunternehmen der Chemiekombinate — kein Wunder, daß man in Halle und Umgebung nur noch mit marginalen Privatisierungserfolgen rechnet.

130 Chemiebetriebe mit rund 300.000 Beschäftigten zählte die Branche in der ehemaligen DDR — der Großteil davon steht im Raum Halle-Leipzig. Heute sind rund zwei Drittel privatisiert oder abgewickelt, die Arbeitsplätze auf rund 80.000 zusammengeschrupft. Die BASF hat das Synthesewerk in Schwarzheide übernommen, Hoechst investiert in Grueben, und Bayer will in Bitterfeld eine neue Produktionsstätte auf die grüne Wiese stellen. Was die Chemiemultis allerdings zum Gang in den Osten bewegt hat, klärt der künftige Bitterfelder Bayer-Chef Helmut Lehmann auf: Das Unternehmen habe sich „aus Gründen der deutschen Einheit“ für den ostdeutschen Standort entschieden, und der Höchstfördersatz sei für den „Wirtschaftlichkeitsnachweis gegenüber den Aktionären“ notwendig gewesen. Und was in Buna, Leuna oder Wolfen an chemischen Verbindungen zusammengebraut wird, können die mit Überkapazitäten kämpfenden West-Konzerne ohnehin effizienter bei sich mixen.

Auch Klaus Schucht muß die Erwartungen immer wieder dämpfen. Noch vor wenigen Monaten vertröstete der für die ostdeutsche Chemieindustrie zuständige Treuhand-Vorstand die Beschäftigten auf den Sommer. Bis dahin, so Schucht, seien Privatisierungsentscheide für wesentliche Teile der Buna AG und den nach dem Raffinerieverkauf verbleibenden Rest der Leuna-Werke zu erwarten. Ein halbes Dutzend Interessenten gebe es auch für die Bitterfeld- Chemie. Ende Juli erklärte der einstige Ruhrkohle-Westfalen-Chef den Chemie-Betriebsräten dann, es gebe für Buna, Leuna und das Chemiewerk Böhlen „sehr konkrete Verhandlungen mit den Italienern“ — bis Ende des Jahres solle die Privatisierung entweder mit dem italienischen Staatskonzern ENI oder einem zweiten Konsortium abgeschlossen sein. Aber wer kann das schon mit Sicherheit sagen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht jedenfalls, so urteilten die im Treuhand-Auftrag in die Region gereisten Unternehmensberater McKinsey und Arthur D. Little schon im letzten Jahr, seien die Standorte nicht zu erhalten.

Noch leben die Kombinate, auch wenn sie auf Sparflamme produzieren und weiter am Tropf der Treuhand hängen. Allein an Betriebsverlusten mußte die Breuel-Behörde seit Anfang 1991 2,7 Milliarden Mark ausgleichen, von den 3,5 Milliarden Mark Altschulden ganz zu schweigen. Zusammen mit Sanierungsmaßnahmen und Investitionen haben die ostdeutschen Chemiewerke bereits knapp acht Milliarden Mark verschluckt — die Kosten für die Altlasten erst gar nicht eingerechnet. Mit so viel Geld, dazu noch aus öffentlichen Töpfen, hätte genausogut etwas Neues aufgezogen werden können, als die völlig verrotteten Giftmischanlagen über die Jahre zu retten.

Daß um Halle der ökologische Notstand herrscht, wollen die Landespolitiker und Wirtschaftsförderer jedoch nicht gelten lassen. Die Region sei besser als ihr Ruf, verkünden sie unermüdlich. Schützenhilfe für die Investorensuche hat auch das Landesamt für Umweltschutz geleistet: Nach den Produktionsstillegungen sei das Wasser nur noch stark verschmutzt, und die Schadstoffbelastung der Luft habe spürbar abgenommen. Doch die Chemie soll in der Region bleiben — das jedenfalls ist der Wunsch, der Unternehmen, Betriebsräte, Gewerkschaften, die Treuhand und den Kanzler eint.

Braunkohle, Wasser und Salz hatten die Grundstoffchemie in den 20er Jahren in die Region gezogen, heute kann sich dort niemand vorstellen, daß sie eines Tages wieder verschwunden sein könnte. Nicht einmal mit einem weiteren Schrumpfkurs will man sich abgeben, sagt Dohl, schließlich stehe „der Kanzler persönlich im Wort“.