Ein JFK des 19.Jahrhunderts

Die wahre Geschichte des „Kaspar Hauser“  ■ Von Reinhard Lüke

Donnerstag vergangener Woche, in einem tschechischen Dorf, rund eine Autostunde von Brno. Die Szenerie mutet schon ein wenig unwirklich an. Im weitläufigen Park eines ehrwürdigen Schlosses sind drei betagte Kranwagen aufgefahren, von deren Plattformen aus überdimensionale Scheinwerfer versuchen, die Szene, die sich da in der dritten Etage des Gebäudes abspielt, ins rechte Licht zu setzen. Drinnen müht sich derweil ein Team unter der Leitung von Regisseur Peter Sehr, die Taufe eines veritablen badischen Erbprinzen Anfang des 18.Jahrhunderts nachzustellen. Das heißt, so veritabel war der Prinz damals nun auch wieder nicht.

Eine skrupellose Gräfin hatte, um ihre eigenen Söhne auf den Thron zu bringen, den echten Stammhalter, laut Drehbuch, unbemerkt gegen das Kind eines Lakaien ausgetauscht und dieses per Genickschlag zuvor auch noch so „präparieren“ lassen, daß es kurz nach der Zeremonie sterben würde. Der rechtmäßige Thronerbe wurde derweil klammheimlich in ein entlegenes Schloß verfrachtet, von wo er aufgrund verwegener politischer Schachzüge alsbald einem noch weit ärgeren Schicksal zugeführt werden sollte. Preisfrage: Unter welchem Namen wurde der legitime Thronerbe später bekannt? Keine Ahnung?

Zweiter Versuch. Am Pfingstmontag des Jahres 1828 taucht in Nürnberg ein verwahrloster junger Mann auf. Von gebückter Haltung, mit wirren, verängstigten Augen, denen das grelle Sonnenlicht offensichtlich zu schaffen macht, bringt er nur Laute hervor, die kaum wie eine menschliche Sprache klingen. Das umherstehende Volk treibt seine Späße mit dem seltsamen Kauz, bis der Bürgermeister sich seiner erbarmt und ihn vor der geifernden Meute vorerst in Sicherheit bringt. Später dann nimmt sich ein Lehrer namens Daumer seiner an und unterrichtet den wißbegierigen Jüngling. Fünfeinhalb Jahre nach seinem Auftauchen, am 17.Dezember des Jahres 1833, fällt der gelehrige Schüler im Alter von 21 Jahren jedoch einem heimtückischen Mordanschlag zum Opfer.

Nun, alles klar? Aber sicher, das ist die Geschichte jenes „Kaspar Hauser“, die Sozialpsychologen, Literaten von Jacob Wassermann bis Peter Handke, Barden wie Reinhard Mey und Suzanne Vega oder Regisseur Werner Herzog („Jeder für sich und Gott gegen alle“) zu mehr oder minder ersprießlichen Elaboraten veranlaßte.

Das Fernsehspiel, das da derzeit unter Federführung des Bayerischen Rundfunks in der CSFR entsteht, könnte jedoch dazu angetan sein, der „Hauser-Story“ eine bisher weitgehend unbekannte Dimension und Brisanz zu verleihen. Wenn man den akribischen Recherchen diverser Historiker glauben darf, handelt es sich bei jenem sonderbaren Findelkind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um jenen Thronerben des Großherzogtums Baden, der ein tragisches Opfer von Intrigen und politischen Ränkespielen wurde, gegen die sich die Bosheiten im Hause der Ewings allenfalls wie betuliches Kaffeekränzchen ausnehmen. „Ein Fall wie ein ,John F. Kennedy‘ des 19.Jahrhunderts“ nennt Regisseur Peter Sehr das Ganze. Und fürwahr hat die Historie hier offensichtlich eine Story in bester Wilkie-Collins- Manier „ausgesponnen“, nach der sich wahrscheinlich sämtliche Hollywood-Produzenten die Finger lecken würden. Geschichtliches Zeitbild, Krimi mit einem eminent spannenden Plot, skrupellose Intrigen, große Gefühle und, in Gestalt des „Kaspar Hauser“, eine tragische Identifikationsfigur, ohne die bei Kino und Fernsehen nun mal keine Zuschauer zu fesseln sind.

Und im Vertrauen auf diese ebenso attraktive wie brisante Geschichte hat die ARD keine Kosten und Mühen gescheut, um einem aussterbenden Genre, dem Fernsehspiel, zu einem seiner womöglich letzten Glanzlichter zu verhelfen. Von Regie und Kamera (Gernot Roll) bis zu den Darstellern (neben Andre Eisermann als Kaspar, Katharina Thalbach, Udo Samel, Dieter Laser und Uwe Ochsenknecht wurde so ziemlich alles verpflichtet, was vielleicht noch einmal an Zeiten des Qualitätsfernsehens erinnern könnte).

Ermöglicht wird dieses aufwendige Mammutprojekt trotz der Beteiligung diverser in- und ausländischer Sender letztlich jedoch nur durch das momentane Film-Mekka CSFR. Weniger weil hier noch die von keiner Restaurierung — für Filmzwecke — „verschandelten“ Bauten zu finden sind, sondern weil die Tschechen einen kompletten, versierten technischen Stab (unter anderem mit Karel Vacek, der schon Formans „Amadeus“ ausstattete) derzeit noch zu Dumpingpreisen anbieten können. Das Ergebnis dieses ambitionierten Projektes wird als Zweiteiler voraussichtlich Ende nächsten Jahres in der ARD zu begutachten sein.