Vögel, Waisen und Narren

■ 42. Berliner Festwochen: Zur Retrospektive tschechischer Filme im »Arsenal«

Die tschechische »nouvelle vague« wurde in den sechziger Jahren — zumindest in der Filmwelt — nicht weniger bewundert als ein paar Jahre später Dubceks Versuch, dem Sozialismus ein menschliches Gesicht zu geben. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt. Dubcek arbeitete 20 Jahre lang in einem anderen Beruf, die Filme lagerten im Archiv, und ihre Macher wußten manchmal nicht, ob es sie überhaupt noch gibt. Die Regisseure sind inzwischen weißhaarig, einige von ihnen (Schorm, Juracek, Kadar) bereits tot, andere (Forman und Passer) leben sehr weit weg.

Ihre aufgetauten Filme haben den Weg ins Kino gefunden. Die Freunde der Deutschen Kinemathek zeigen im »Arsenal« frühe Filme von Milos Forman (»Schwarzer Peter«, 1963; »Liebe einer Blondine«, 1965), drei Filme von Evald Schorm (»Mut für den Alltag«, 1964; »Rückkehr des verlorenen Sohns«, 1966; »Der siebte Tag, die achte Nacht«), Ivan Passers »Intime Beleuchtung« (1965) sowie Jiri Menzels »Scharf beobachtete Züge« (1966) und »Lerchen am Faden« (1969) — nicht zu vergessen die Filme der exzentrischen Grande Dame und radikalsten Erneuerin des tschechischen Films, Vera Chytilova. Schließlich den einzigen tschechischen Oscar-Gewinner, »Das Geschäft auf der Hauptstraße« (1965) von Elmar Klos und Jan Kadar mit Ida Kaminska, die auch später in den amerikanischen Filmen des emigrierten Kadar spielte.

Das Filmwunder war nicht Monopol einer Generation, vor allem nicht eines Themas oder Stils. Einheitlich war nur das Bestreben, die dogmatischen Normen des Denkens zu durchbrechen und von der entpersonifizierten Kunstwirklichkeit der Stalinära loszukommen. Die normative Ästhetik von gestern kodifiziere die künstlerische Lüge, und »die Lüge in der Kunst muß gesetzlich verboten werden«, erklärte Vera Chytilova damals. Authentizität und betont subjektive Sicht, cinéma vérité und Parabel waren gleichberechtigt.

»Die Sentimentalität der Väter, die im Sozialismus die Erfüllung eines herrlichen Traums sahen, liegt diesen Jungen ebenso fern wie die existentielle Bitternis, die dieselben Väter zu erkennen gaben, als sich der rosige Nebel auflöste und unsentimentale Tatsachen zu Wort kamen«, so beschrieb ein tschechischer Filmkritiker die Stimmung dieser Generation nach Chrustschows XX. Parteitag. Erstaunlich, wieviel Humor, Ironie und groteske Beobachtungen am Anfang dieser Welle standen — etwa in »Schwarzer Peter« oder »Chansonsängerinnen gesucht«, eine Stimmung, die sich zunehmend eintrübte.

Der frühe Forman

In einer Kleinstadt gibt es nur Frauen: die Weberinnen der einzigen Fabrik am Ort. Der alte Direktor (als einziger Mann) begreift, daß dabei nichts Gutes herauskommen kann und bittet die Gebietsleitung um eine »menschliche Lösung«: in die Stadt soll eine Soldatengarnison verlegt werden. Aber das Glück nach Plan nimmt einen anderen Lauf. Statt der jungen Burschen kommen Reservisten in die Stadt, lauter Familienväter, die auf ein kurzes Abenteuer aus sind. »Die Liebe einer Blondine« — der Starblondine des tschechischen Films, Jana Brejchova — endet zwar im Bett eines jungen Musikers, doch überdauert sie die Nacht nicht. Das Glück bleibt ein Traum. Forman indes beobachtet die Menschen gnadenlos: Verklemmung, Frust, das Animalische sind entblößt, Poren, Schweiß, Pickel werden durch keinerlei Make up kaschiert. Und doch wirken diese groben, kläglichen, keineswegs schönen Körper in ihrem so schutzlos offenen Liebesbedürfnis, das nicht gestillt wird, rührend.

Einmalig ist auch die melancholische Leichtigkeit der Komödien von Jiri Menzel. Ein Schrottplatz, auf dem die surreale Begegnung zwischen einer Schreibmaschine und einem Regenschirm ungestört stattfinden kann, wird lange abgeschwenkt. Ein »Operationsplatz«. Nicht Metalle werden hier »recycelt«, sondern Menschen, gleichsam »Schrott aus alten Zeiten« — in den Augen einer neuen Ordnung: Ein Philosoph, der sich weigert, Schopenhauer »auszusortieren«; ein Rechtsanwalt, der ein Rechtssystem nicht versteht, in dem Anklage und Verteidigung eins ist; ein Gläubiger, der sonnabends nicht arbeiten kann; ein Saxophonist, der »bürgerliche Musik« macht; ein kleiner Kapitalist und sogar ein Kommunist, der sich freiwillig in der Umerziehungsanstalt angemeldet hat. Er verschwindet aus dieser Gemeinschaft als erster, spurlos, in Begleitung schweigender Regenmantelträger... Hinter Bergen rostigen Mülls kichern Frauen, die versucht haben, dem kommunistischen Paradies zu entfliehen: die geschnappten Evas. Allesamt »Lerchen am Faden«.

Der Schrottplatz liegt bei Kladno, im Tschechischen, und man schreibt das Jahr 1949: die Mikrowelt der Ausgestoßenen, deren Bewußtsein umgeschmolzen werden soll, am Rande einer irgendwo ablaufenden historischen Umwälzung. Diese folgt eiserner Logik und wird von kafkaesken Prozessen, keineswegs literarischen Schüssen begleitet. In Jiri Menzels Film dagegen regieren Zufall und Eros — Kräfte, die sich außerhalb von Logik und Gesetz breitgemacht haben. Zwei junge Gefangene verlieben sich und heiraten gar, doch kommen sie nicht zusammen. Die Hochzeitsnacht wird in getrennten Zellen gefeiert. Ihr Bewacher hat eine Frau zu Hause, eine Zigeunerin, doch nähern kann er sich ihr nur, wenn er seine Vorstellungen von »Regeln« und »Normalität« ablegt. Der stramme Parteisekretär vermag sich nach den anstrengenden Tagen voll und ganz nur einer Passion hinzugeben: er wäscht den Körper eines jungen Mädchens. Sinnlichkeit, Ausbruch des individuellen Chaos triumphiert über Ordnung, und alle werden ihr tragikomisches Opfer: die Umerzogenen wie die Umerzieher. Die angekündigte Bewältigung des Körpers durch das Bewußtsein findet nicht statt, und die unerfüllte Sinnlichkeit hinterläßt den Beigeschmack einer zärtlichen Unschuld der Beteiligten. Diese Unschuld gönnt Menzel allen seinen Helden. Deshalb wirkt »Lerchen am Faden« keineswegs verbittert. Der Film geht die Absurditäten der rational angelegten Welt nicht mit der Schärfe und Tragik eines Kafka an, sondern mit der melancholischen Ironie eines Hasek und dessen Nachfolgers, Bohumil Hrabal, der in seinem Weltgefühl die beiden Prager auszusöhnen trachtete.

Tausendschönchen

»Wir wollen die Fruchtlosigkeit eines Lebens, gebaut am Kreis, am Zauberkreis von Pseudobeziehungen und Pseudoworten, erklären, eines Lebens, das unabdingbar zum Leerlauf, zur Pose führt, gleichgültig, ob Verderbtheit oder Glück vorgespiegelt werden«, sagte Vera Chytilova zu ihrem »Tausendschönchen«, vielleicht dem berühmtesten Film des Prager Frühlings. Sie täuscht hier nicht einmal die Andeutung eines Alltags- oder Realitätsbezugs vor, sondern entwirft ein collageähnlich gefügtes Bild für die destruktive Besessenheit und den Zynismus der Welt, die durch Kriege und soziale Konvulsionen erschüttert wird. Eine grotesk-philosophische, schockierende Parabel mit dem programmatischen Untertitel: Kein Märchen.

Zwei siebzehnjährige Mädchen zetteln ein Spiel mit der Welt an — in der Annahme, daß sie, die Welt, sowieso keinen Sinn hat. Ein Spiel, das in die völlige Destruktion führt. Sie leben in einem luftleeren Raum, ohne Vergangenheit und Zukunft, bewegen sich wie Gliederpuppen. Ihre Stimmen klingen wie Schallplatten, der Dialog besteht aus einem Abtausch von Stereotypen. Marie I und Marie II, die Blonde und die Dunkelhaarige, zwei Abgüsse einer Schablone, zwei Schwestern oder zwei Seiten ein und derselben Person, die sich auf den Weg durch die Welt machen. Sie vereinnahmen für sich die Landschaft des totalen Konsums, nehmen ältere Herren aus, die sie dann jedesmal in wegfahrende Züge setzen, verschlingen ungeheure Mengen an Speisen und Getränken, stehlen einer Klofrau das Geld, brechen in exklusive Etablissements ein, verwandeln diese in ein totales Chaos und wirken bei alledem wie zwei Unschuldsengel.

Die Öffentlichkeit, in die sich Marie I und II begeben, sind Stätten des Konsums, des Abfallausstoßes und der Fortbewegung: Restaurant, Toilette, Bahnhof. Alles, was ihnen unter die Finger kommt, nagen sie bis auf den Knochen ab. Das Zimmer der Mädchen zieren bunte Zeitschriftenbilder, Ersatzsymbole der »Welt im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit«. Und die Symbole der Barmherzigkeit — Kreuz und Dornenkranz — werden ebenso erbarmungslos parodiert wie Sexualsymbole im orgiastischen Treiben der Mädchen mit Gurken, Bananen, Würstchen. Mit Scheren zerschneiden sie zunächst ihre Kleider, dann alles andere ringsum, schließlich sich selbst und das Filmbild. So zerfällt es in eine bunte Collage aus einzelnen Schnipseln, die zu einem Chaos absurder Verbindungen neu zusammengefügt werden.

Begräbnisriten

Das Spiel endet, und ihm folgen fast symbolisch »Die Begräbnisriten«, ein damals nicht aufgeführter Film von Zdenek Sirovy. Ein Bauer stirbt. Sein Weib will ihn begraben. Geht zum Priester, um die Erlaubnis einzuholen, den Mann in das Familiengrab zu legen. Dieser ist machtlos, schickt die Frau weg, zur Partei. Die Funktionäre beraten sich, die Witwe wartet draußen. Ein schwarzer Punkt inmitten eines verschneiten eisigen Platzes. Die Erlaubnis wird erteilt, das Geheimnis der Furcht vor dem Toten gelüftet. Der Bauer war einst enteignet und verbannt worden, weil er nicht in den Kolchos wollte und sich gegen die Lüge der Funktionäre auflehnte. Die Dorfleute haben damals seine Habe geraubt — Bettwäsche, Nähmaschine, Eheringe... Nun finden sie wieder zusammen in einem Trauerzug wie zu einem Reueakt wider die eigene Feigheit und Schlechtigkeit. Wenn die Dorfleute dem kollektiv erniedrigten Einzelgänger die letzte Ehre erweisen und die Parteifunktionäre aussperren, wird dieser Vorgang zu ihrer kollektiven Reinigung — doch es fällt auch zwanzig Jahre danach schwer, die tiefe Depression zu verdauen, die von dem Film ausgeht.

Die Filme verheißen keine Befreiung aus den Zwängen der erkannten Absurdität und Ausweglosigkeit des Daseins. Da hilft es wenig, wenn man ihren existentiellen Schwermut mit »Kritik am System« überschreibt. Auch der Humor von Forman oder Jires, selbst die wunderbare Leichtigkeit der Imagination und des Spiels, wie sie Jakubisko beschwört, schaffen das nicht:

Drei Außenseiter, zwei Jungen und ein Mädchen, konstruieren eine Spielwelt, wo keiner über ihre ménage à trois stolpern kann. Doch die Realität, auch wenn sie sich selbst eine bauen, holt die drei ein. Verspieltheit verheißt keine Befreiung, der Karneval der »Vögel, Waisen und Narren« endet im Blut. Der Held ersticht die schwangere Geliebte und zündet sich selbst an. Ab und zu eingeschnittene Bilder, die die bunten Außenseiter plötzlich in normaler Kleidung und Neubauwohnungen zeigen, verraten die Unmöglichkeit eines spielerischen Ausgangs: die Kunst sperrt sich als Tröster selber aus.

1968 und später

Nach dem Einmarsch der »Bruderländer« im August 1968 und der »Normalisierung« in den 70er Jahren wurde den Filmen und ihren Machern vorgeworfen, daß sie durch ihre »ideologische Diversion bedeutende Schäden im Bewußtsein der Menschen verursacht haben«, indem sie Skepsis verbreiteten, die tschechoslowakische Teilnahme am Befreiungskampf bagatellisierten, »selbstsüchtigen Individualismus, Sexualität, negative Einstellung zur sozialistischen Entwicklung und Diskreditierung der Kommunisten« beschwörten. So stand es in Film a doba, 1971, drei Jahre, nachdem dieselbe Zeitschrift den Aufbruch derselben Filmemacher zur Ernüchterung, zur Ablehnung aller Illusionen und Mythen gefeiert hatte.

Zwanzig Jahre später erklärt die Zeitschrift diese Filme zum Stolz der nationalen Kinematografie. Doch kann man etwa von ihnen aus noch einmal anfangen? Die Stimmung, die die Werke ausstrahlen, ist keineswegs ansteckend. Wo nimmt man da den Mut her — für heute, morgen, übermorgen... ? Das Land steht vor der Spaltung, auch der Künstler Havel konnte sie nicht aufhalten und ist am Ende seiner Kunst. Die Illusionen sind ad acta gelegt. Auch die, daß Kunst etwas im Bewußtsein der Menschen ausrichten könne. Oksana Bulgakowa