Immerzu irgendwie kompatibel

Zur Berliner Uraufführung von Reimanns Kafka-Oper „Das Schloß“  ■ Von Elisabeth
Eleonore Bauer

Der Erfolg war völlig unvermeidlich. Wochen vorher schon wußten alle Zeitungen davon zu melden, unisono flimmert und rauscht es seit längerem aus sämtlichen dritten Programmen: Wieder ist ein großer Wurf gelungen. Abermals ist uns ein Werk gegeben von dem profunde begabten und beliebten und bekannten und überaus erfolgreichen Komponisten Aribert Reimann; ist das Stück ausgereift und abgehangen, hochinteressant, tiefbedeutend, topaktuell, toller Applaus, Blumenstrauß und so weiter.

So lieben es die Musikkritiker, das kommt schließlich selten genug vor in ihrem Metier; daß sie gar nicht hinhören, hingucken und (streng genommen) nicht einmal hingehen müßten, daß sie ihre Nachtkritik entspannt und in Muße schon ein paar Tage im voraus auf Halde schreiben können: großer Erfolg, profunder Komponist, Applaus, Blumenstrauß etc. pp. In Wahrheit sind sie natürlich alle dagewesen. Tout le monde war schließlich da und alles, was Rang und Namen hat, versammelt in der Deutschen Oper Berlin, sogar der Regierende und die Honoratioren der Stadt — weil nämlich mit Aribert Reimann am Mittwoch die 42. Berliner Festwochen eröffnet wurden. Das Thema der Festwochen heißt in diesem Jahr „Prag“ und die neueste Reimann-Oper: „Das Schloß“.

Der Komponist, der bereits eine Oper nach Shakespeare, eine nach Ibsen, eine nach Euripides beziehungsweise nach Franz Werfel geschaffen hat, nahm sich diesmal ein Bildungsgut der Moderne zur Brust. Schuf sich selbst (in enger Anlehnung an jenen berühmten Roman von Franz Kafka und unter Umgehung jener berühmten Schauspielfassung von Max Brod) ein Libretto, in dem es nur so wimmelt von Romanzitaten, die wie detaillierte Regieanweisungen anmuten und empfehlen, was man zu sehen hat während des Hörens. Im Programmheft und in der Pressemappe wird darüber hinaus noch flächendeckend erklärt, was man sich dabei zu denken hat sowie, was nach Meinung des Komponisten besonders gut gelungen und vor allem anderen des Hörens wert sei: Aha! Schon der Anfang, wie sich da eine Melodie Tonschritt für Tonschritt geheimnisvoll aus der Stille emporwebt! Und erst diese prima Climax gegen Ende, wenn die in einundvierzig Stimmen aufgeteilten Streicher mit dem Spiegelkanon beginnen. Dann der Schlußchoral! Profunde historisch gedacht — wie aktuell bedeutsam dagegen die einsamen Vokalisen der unglücklichen Olga oder die espressivo ins Nichts hineingeschleuderten Nonen und Undezimen der Frau Wirtin! Aribert Reimann ist handwerklich vorbildlich gewissenhaft und außerdem so emsig wie ein ganzer Bienenstock — die Musik, die er dabei produziert, klingt immer auf erstaunliche Weise irgendwie kompatibel, für jeden Geschmack und für jede beliebige Situation. Mag sein, das ist eines der Geheimnisse seines Erfolges.

Ein anderes ist der sportive Umgang mit den Stimmen. Auffallend daran war schon vor vierzehn Jahren in Reimanns „Lear“ die ariose Virtuosität und die beinahe barocken Verzierungskünste, die ohne Rücksicht auf Sinn und Verstand von Text und Handlung nur schön, preziös und prachtvoll sind und weiter nichts. Ein bißchen wirkt das so, als sei im Salto rückwärts die gesamte Operngeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts übersprungen, die Reformen von Wagner bis Gluck vergessen und Oper wieder, wie einst die Jagd, ein ausschließlich fürstlich' Vergnügen. Was Wunder, daß selbst Opernfreunde aus dem Abonnement sich recht wohl dabei fühlen, die doch sonst mit der Neuen Musik nicht gerade auf gutem Fuße stehen. Drittens weiß Reimann äußerst delikat umzugehen mit den Grenzen seiner Kunst.

Immer da, wo es etwas besonders Wichtiges zu sagen gilt, läßt er einfach die Musik beiseite und den originalen Kafka zu Worte kommen: Dann komponiert er Kunstpausen ein, oder die Stimmen der Sänger schlagen wieder um in Sprache; was sicheren Effekt macht, der sich auch nach mehrfachem Gebrauch nicht abnutzt und kurz vor Schluß zu einem echten Knüller wird: als nämlich der Landvermesser K. (Wolfgang Schöne) auf seiner Suche nach dem Zentrum der Macht so tief ins Schloß eingedrungen ist wie nie zuvor; als ihm da ein Beamter namens Bürgel (Staatsschauspieler Peter Matic) allerlei Bedenkliches mitteilt über das Glück der Gelegenheit und die Günstlingswirtschaft — und wie K. dann, derweil der Schauspieler wundervoll weitermonologisiert, einschläft und nichts mehr mitkriegt, was ihm nicht zu verdenken ist, weil er schließlich beinahe drei Stunden auf der Bühne hat stehen und singen müssen. Für die Zuschauer dagegen ist diese Szene dramaturgisch so wichtig wie der Paukenschlag in Haydns vierundneunzigster Sinfonie: sie ihrerseits wachen pünktlich wieder auf und sind fit für den Schlußapplaus.

Der fiel, wie gesagt, üppig aus und machte alle Beteiligten richtig glücklich, auch diejenigen, die sich nur als Nebensonnen im Ruhme Reimanns wärmten. Regisseur und Ausstatter beispielsweise, denen außer reichlich Schneegestöber und schwarzweiß schlurfender Melancholie für die kafkaesken Hauptfiguren sowie einem Hauch von Cabaret für die burlesken Buffoeinlagen nichts eingefallen war. Die Sänger, Sängerinnen sowie das Orchester der Deutschen Oper (Leitung: Michael Boder) dagegen boten beste Leistung. Und auch wenn Herr Boder völlig recht hat, wenn er behauptet, mit Kafkas Roman habe Reimanns Oper überhaupt nichts zu schaffen — ein Gutes ist doch dabei herausgesprungen: Lust darauf, einmal wieder Kafka selbst zu lesen.