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NICHTS GEHT ÜBER EINE ZÜNFTIGE HINRICHTUNG Von Ralf Sotscheck

Der ältere Herr im grauen Flanellanzug kniet auf einem Grab neben der Kirchenruine auf dem Friedhof Monasterboice nördlich von Dublin. Über den Grabstein aus dem vergangenen Jahrhundert hat er Pergamentpapier ausgebreitet und paust die kaum noch lesbare Inschrift ab. Ein morbides Hobby? Keineswegs. Er verdient sogar Geld damit. „Ich arbeite bei einem Institut für Ahnenforschung“, sagt er. „Die Amis geben ein Vermögen aus, um ihre Wurzeln zu finden.“ Auf den Transatlantikflügen nach Shannon steckt die Werbung der konkurrierenden genealogischen Firmen in den Sitztaschen, um die O'Nochwas und McSonstwies aus USA mit einem lupenreinen Stammbaum zu ködern, der bis zum Wikingerchef Ivarr dem Knochenlosen zurückreicht.

Die irische Tourismusindustrie will nun auf den Leichenwagen aufspringen: Die Fremdenverkehrsämter Nord- und Südirlands haben für den ganzen September ein „Homecoming-Festival“ mit Festbanketten, Tanz, traditionellen Sportveranstaltungen und Seminaren zur Ahnenforschung organisiert. Daneben gibt es Dutzende von Clan-Treffen. Der Stadtrat von Dromahair in Nordwestirland, wo früher der Häuptling der O'Rourkes residierte, hat 12.000 O'Rourkes in der ganzen Welt angeschrieben und zum Familienfest eingeladen. Höhepunkt ist ein historisches Festspiel, bei dem die Hinrichtung des Clanhäuptlings wegen Kooperation mit der spanischen Armada inszeniert wird. „Ich liebe eine gute Hinrichtung“, sagte einer der Stadträte.

Der Kreis der potentiellen Festivalbesucher ist groß, schließlich gibt es 70 Millionen IrInnen weltweit. Darunter sind auch einige US-Präsidenten, die sich in Wahlkampfzeiten regelmäßig auf ihre Wurzeln besinnen und das (Urgroß-)Vaterland besuchen, um die Stimmen der ExilirInnen zu fangen. Nach Ronald Reagans Visite in seinem „Heimatdorf“ Ballyporeen wurde die örtliche Kneipe in Ronald-Reagan-Bar umgetauft. Seitdem soll das Guinness dort wie Coca-Cola schmecken.

Der irische Staat will das Geschäft mit der Wurzelsuche nicht alleine den Privatfirmen überlassen. So hat man in jeder Grafschaft ein Zentrum für Familiengeschichte eingerichtet. Im Jahr gehen dort 15.000 Anfragen ein. Beratungen kosten umgerechnet 30 bis 50 Mark, für einen „kompletten Service“ muß man 200 Mark hinblättern. Doch wozu das Ganze? Während die Emigranten, die im vergangenen Jahrhundert vor Hungersnot und Armut flohen, ihre Herkunft zu vertuschen suchten und sich möglichst schnell einen US-amerikanischen Akzent zulegten, gilt es heute offenbar als exotisch, wenn man einen irischen Großonkel Mick vorzuweisen hat. Freilich gibt es zuweilen auch handfeste ökonomische Gründe: Manche Heimkehrer haben gleich einen Rechtsanwalt im Gepäck, um sich das Grundstück des verstorbenen Halbvetters unter den Nagel zu reißen. Einige Unternehmer benutzen die Oma aus Dublin oder den Opa aus Cork gar als Hintertür in die EG. Wer nämlich einen irischen Großelternteil nachweisen kann, hat das Recht auf einen irischen Paß. Dem Flanellanzugträger auf dem Friedhof von Monasterboice ist das egal. „Ich habe keinen Schimmer, was unser Auftraggeber mit seinem Stammbaum will“, sagt er. „Aber er wird über seinen großen Verwandtenkreis überrascht sein. Sein Ururgroßvater, der hier liegt, war nämlich der örtliche Priester und hat wohl ein Viertel aller Einwohnerinnen geschwängert.“

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