Die Augen größer als der Magen

■ Movimientos '92, das diesjährige Internationale Sommertheater in Hamburg bot ein monströses Programm mit viel Überfluß

Movimientos '92, das diesjährige Internationale Sommertheaterfestival in Hamburg, endete, wie es begonnen hatte: mit einem Leichenzug. Zwei der wenigen international bekannten Regisseure aus Lateinamerika, Carlos Gimenez zur Eröffnung mit seiner Theatergruppe „Rajatabla“ und Antunes Filho jetzt zum Ausklang mit „Macunaima“, wählten dieselbe Metapher als Kommentar zu den Verhältnissen in Südamerika und schlossen damit auch den gedanklichen Kreis dieser bis dato „größten Präsentation des lateinamerikanischen Theaters in Europa“ (Festivalleiter Dieter Jaenicke). Die Themen Tod, Trauer, Angst oder Melancholie bestimmten die besten Produktionen.

Dennoch provozierten die als großes Finale gedachten drei Stücke von „Macunaima“ nur Schulterzucken und Höflichkeitsapplaus. Eine peinliche Rotkäppchen-Adaption mit verschämten Darstellungen der sexuellen Symbolik im Märchen und unaufhörlichem Gekreische wurde als bittere Vorspeise gereicht. Dieser folgte an den letzten beiden Festivaltagen die Hauptproduktion als endgültiger Abgewöhner.

Die zwei Einakter von Nelson Rodrigues, die im selben Bühnenbild spielten — einer Bahnhofshalle in brasilianischen Jugendstil — setzten die schrille Hektik des Märchens fort und geizten darüber hinaus nicht mit billigen dramatischen Effekten und halbgarer Schauspielkunst. Dröhnende Musik aus Hollywood-Schmachtfetzen, puppenhaftes Aussehen und wildes Gerenne ersetzten psychologische Genauigkeit und Charisma der Akteure.

Auch sonst gelang es dem neunten Sommertheater auf Kampnagel nur teilweise, seine selbstgesetzten Ansprüche zu erreichen. Das monströse Programm — 25 Gruppen aus zwölf Ländern und insgesamt 127 Vorstellungen in drei Wochen — lieferte zwar einen breiten Überblick über das südamerikanische Theatergeschehen. Das Publikum, dem vorab versprochen worden war, es bekäme fremdartiges Theater zu sehen, das „erkennbar Latino“ sei, mußte aber meist verwundert feststellen, daß mehr als Ansätze für eine eigene südamerikanische Theatersprache nicht vorhanden waren. Vor allem das Sprechtheater bot überwiegend gediegene Kost. Dort, wo eine eigene Sprache vorhanden war, blieb diese meist in zu regionalen Bezügen gefangen, wie etwa bei der peruanischen Gruppe „Yuyachkani“. Daß die einzige Sprechtheater-Produktion, die Kritik wie Publikum gleichermaßen begeisterte, von dem New Yorker Gerald Thomas stammte, nämlich seine blutrünstige Mutter-Tocher-Groteske „The Flash and Crash Days“, war symptomatisch.

Anders stellte sich das umfangreiche Tanztheater-Programm dar. Hier ließen sich viele hoffnungsvolle Ansätze entdecken, und mit Alvaro Restrepos archaischer Performance „Rebis“ fand sich hier auch die einzige Produktion aus Südamerika, der es in brillanter Manier gelang, etwas Orginales in eine universale Form zu bringen. Als nacktes, rotbemaltes und androgynes Wesen, das sich im roten Dämmerlicht auf einem blanken Erdflecken die Welt erschließt, schuf Restrepo die imaginative Sensation des Festivals. Überhaupt war Nacktheit und Sexualität das zweite große Thema des Festivals.

Auch die peruanische Tanz-Compagnie „Integro“, die sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in ihrer Heimat auseinandersetzte (eines der ganz wenigen „politischen“ Stücke) oder „El Descueve“ aus Argentinien beeindruckten innerhalb der „Tanz-Werkstatt“ mit sehr eigenen Arbeiten. An Perfektion und Stilsicherheit überbot zum Abschluß „S.O.A.P.“ alles bisher Dagewesene. Die Choreographie „Domestic Arrangments“ des Portugiesen Rui Horta, die am Frankfurter Mouson- Turm erarbeitet worden ist, konnte die Geldmuskeln spielen lassen. Perfekte Bühne und erstklassige Tänzer führten zu einem umjubelten, wenn auch sehr glatten Ergebnis.

Sicherlich erklärt das kaum vorhandene Subventionssystem in Lateinamerika einiges über die vielfach semiprofessionelle oder biedere Qualität des dortigen Theaters. Die Frage, die sich der Theatergänger hier aber stellte, war, warum dann so viele Gruppen eingeladen werden mußten. Produzierten hier etwa die fetten Zuschüsse (Auswärtiges Amt, Kulturbehörde und Konsulate wg. Kolumbusjahr) einen sinnlosen Überfluß? Nächstes Jahr muß das Festival zum Thema „Kulturidentität und Bewegung“ auf jeden Fall wieder auf seine bisherige Größe schrumpfen. Mit Sicherheit zum Vorteil des Publikums. Till Briegleb