Zufall und Zerfall

■ »Tacheles — Alltag im Chaos« — Ein Fotobuch von Andreas Rost über die Berliner Kulturruine in der Oranienburger Straße

Manchmal wird mir richtig schlecht vor lauter Kunst. — Alles kann halt Kunst sein, jeder kleine Spruch an der Wand könnte künstlerisch gemeint sein oder einfach zufällig.« Der Mann auf dem Foto neben diesen Sätzen sieht nicht so aus, als ob ihm gerade schlecht wäre. Ziemlich entspannt schwebt er, an einen Giebel gelehnt, über den Dächern des Berliner Scheunenviertels. 21 Portraits von Künstlern und Organisatoren hat der Fotograf Andreas Rost in seinem Fotoband »Tacheles — Alltag im Chaos« mit Stilleben aus den Winkeln und Ecken der Ruine kombiniert. Was auf den Fotos wie Kunst wirkt, wurde tatsächlich von Zufall und Zerfall gestaltet.

»Mich interessiert, was die Gegenstände mit den Leuten machen, die mit ihnen arbeiten,« sagt der aus Dresden stammende Fotografiestudent. Als langjähriger Freund des Hauses hat er schon so manchen Blick hinter die Kulissen Themrockscher Romantik werfen können. Da steht eine Kaffeekanne mit Unterteller auf einem ausrangiertem Plattenspieler, ein von der Decke baumelnder Doppelstecker erzählt vom ewigen Kampf mit der Technik, Schuttberge hinterm Haus fügen sich zur endzeitlichen Landschaft. Glaubt man diesen Bildern, machen diese Gegenstände nicht gerade glücklich. Vor bröselnden Wänden blicken die Kinder der Apogeneration mit ernsten Augen in die Kamera. Ob das freischwebendes Abflußrohr vor einem Stück Spiegel oder die Performerin, die mit hängenden Schultern vor ihrer altertümlichen Hammondorgel hockt: das leicht braunstichige Orwo-Filmmaterial lädt seine Modelle zum Flirt mit dem Tod.

Annette Gries hat mit jedem der Portraitierten ein Interview geführt. Die Essenz dieser Statements über das Tacheles und das Leben an sich sind neben dem jeweiligen Foto abgedruckt. Eine undogmatische Meinungsvielfalt mit einer oft bildhaften und sehr persönlichen Sprache. »Das hat 'nen Lupeneffekt, da brennt's einem doch echt die Haut weg« — »Du kannst natürlich mit aller Gewalt versuchen, dir eine Fünkchen Ewigkeit zu erhaschen, den Turm von Babel zu bauen.« Die Selbstdarstellung einer Gegenkultur, die die politische Parole in die Mottenkiste gepackt hat, aber das Kontrastprogramm zur Überflußgesellschaft lebt. Die mit dem Zeitgeist im Clinch liegt und doch einen Teil davon repräsentiert.

Der Fotoband ist keine Dokumentation. Dafür fehlen Bilder von Festen und Theatervorführungen, vom Wiederaufbau und neu eröffneten Räumen, von Szenen im Cafe, den Künstlern bei der Arbeit oder auch den Kunstwerken selber. Nicht die Geschichte ist hier das Thema und auch nicht der Alltag im Chaos. Trotzdem hat Rost, der diese Einseitigkeit durchaus beabsichtigt hat, die Essenz der Ruine in seinen Bildern eingefangen. Ein Eindruck frisch belebter Vergangenheit, die zwischen die Grenzen von gemachter und zufälliger, von Zeit und Raum geschaffener Kunst führt. Jantje Hannover

Andreas Rost: »Tacheles — Alltag im Chaos«. ElefantenPress-Verlag, 29,80 DM

Bis 19.9.92 sind die Bilder Di.-Fr., 11-18 Uhr, Sa., 14-18 Uhr in der Fotogalerie am Helsingforser Platz1, in Friedrichshain zu sehen.