Drähte von Herz zu Herz

„Selbst ist das Hirn“: Das Freiburger Theaterfestival inszeniert „Virtuelle Rituale“  ■ Von Martin Halter

Was sich der Chefideologe der Städtischen Bühnen, Carl Georg Hegemann, mit dem 15. Freiburger Theaterfestival vorgenommen hatte, verhieß „eine Wiederbelebung des Archaischen mit futuristisch anmutenden Mitteln als Antwort auf den fortschreitenden Zerfall unserer Zivilisation“. Der Titel „Virtuelle Rituale“ legte vage nahe, daß hier, gleichsam als Fortsetzung der letztjährigen „Lust auf Hölle“, etwas „ganz Altes mit ganz Neuem zusammengebracht“ werde. Das war nicht zuviel versprochen.

Neben Aufführungen, die auf eher herkömmliche Weise an die Her- und Vorstellung künstlicher Wirklichkeiten auf der Bühne arbeiteten (etwa „Tater Kreatur“ mit Bruno Scholz' „Zimtläden“, Jürgen Kruses Inszenierung „Unseen Hand“ oder auch das Schülertheaterstück „How now“, die Science-fiction-Adaption von Goethes „Faust“) versuchte das von Micky Remann organisierte „Brain Space Café“ moderne Kommunikations- und Computertechnik, alte Theaterriten und — Remanns Steckenpferd — „luzide Wachträume“ in einen produktiven Zusammenhang zu bringen.

Der Erfolg des Experiments hielt sich freilich in Grenzen. Die einen murmelten etwas von „neurolinguistischem Blabla“ und „ausgemachtem Blödsinn“, und den echten Cyberpunks ging die elektronische Graswurzelrevolution Remanns wiederum nicht weit genug. Für eine Woche war das Freiburger Theatercafé Computermesse und Esoterikmarkt, „Neuro-Disco“ und „somnambuler Salon“. Die „Scheerbartgruppe“ empfahl dem Publikum in einer kakophonischen Multimediashow, „sich aus dem gehirnkompatiblen Overload“ ihres „neurolinguistischen Hörbilds“ eine „virtuelle Synästhesieversion herauszufiltern“. Axel Brück stellte seine „Mind-Art“ vor, eine Art Lügendetektor, der Gehirnströme und anderes psychogalvanisches „Biofeedback“ in wenig aufregende Erregungsbilder übersetzt; und Meister Remann selber, wie ein transzendentaler Loriot in seinem Sofa plaudernd, redete den Wachhabenden so lange ein, daß sie bereits schlafwandelten, bis die Augenlider schwer und schwerer wurden.

Die Testfrage des Gehirnanimateurs „Was ist hier faul?“ kam dann bei Klaus Grochowiaks gar nicht so virtueller Mischung aus Verkaufsschau und Erweckungspredigt „Selbst ist das Hirn“ zu ihrem Recht. Der NLP-Therapeut pries seine allheilenden Gehirnblockadenbrecher wie ein Dr. Eisenbart des Wassermannzeitalters an; das Publikum, durch New-Age-Musik sediert, wurde auf eine kosmische Kaffeefahrt durch Neuroneurosen und andere Gehirningenieursschwurbel entrückt. Für Hegemann freilich war auch der Hirnscharlatan, so gut wie der Heizdeckenverkäufer bei Hertie, eine genuin theatralische Erfahrung, und Micky Remann empfahl enthusiasmiert, nicht jede „interessante Tat“ gleich wieder durch archaische Rituale kritischer Reflexionen zu zerreden. Wenn alles Theater ist, wie Hegemann schwärmt — warum nicht auch Therapie oder esoterisches Marketing? Warum sollte Heidegger in seinen „Holzwegen“ nicht für Spazierstöcke und Rucksäcke werben dürfen?

Der Höhepunkt der Woche sollten dann Live-Schaltungen zur „Piazza virtuale“ auf der „documenta“, zu Biosphere und zum Electronic Café nach Kalifornien werden. Timothy Leary, der das LSD der Flower-Power-Bewußtseinserweiterung inzwischen mit Cyberspace und Datenhandschuh [Hurra, da ham wir die nötigen Utensilien ja wieder; d. säzzer] vertauscht hat, wollte seine Hirnströme in einem Sphärenkonzert orgeln lassen, war dann aber doch irgendwo in den Untiefen der störrischen Realität verschwunden. Seine Jünger behalfen sich derweil mit dem Austausch von transatlantischem Winke-winke und scheppernder, jodelnder „Transwelt Telephone Music“.

Der Haken an der schönen neuen Welt ist nur, daß die Inhalte kaum Schritt halten mit der avancierten technischen Form: Das Medium ist die ganze Botschaft. Und weil das Fernsehen die Simulationstechniken von Liveschaltungen und neurolinguistischer Gehirnmanipulation nun einmal besser und skrupelloser beherrscht als die biokybernetischen Amateurfunker, sieht der anarchistische Partisan Remann („Auch die digitale Kunst ist nicht vor röhrenden Hirschen gefeit“) mit seiner Vision von den „gallischen Dörfern des Elektronikzeitalters“ ziemlich alt aus. Abgesehen davon, daß die Vorstellung des Menschen als eines beliebig programmierbaren, von der Außenwelt abgeschotteten hedonistischen Biocomputers wenig schmeichelhaft ist (und eher der Tod als eine Bereicherung des Theaters): Wer gegen Vidiotie und die Diktatur des Big Brother ist, wird sich mit der naiven Begeisterung über „Teleformance Cybertalk“ und die „Drähte von Herz zu Herz“ schwerlich anfreunden können. Erschwerend kam hinzu, daß die Vorträge und Experimente der Gurus im „Brain Space Café“ weniger von der vielbeschworenen spielerischen Interaktion spüren ließen als von den überkommenen Ritualen des Frontalunterrichts oder des weihevollen Gottesdienstes.

„Was bleibt?“ fragte Hegemann im abschließenden „Gesprächsritual“. Die Antwort muß heißen: Von der Welt nix, vom „Brain-Tech“- Theater ein schaler Nachgeschmack. Aber eine interessante Tat war's doch.