Kein Pflaster für leichte Diplomatie

■ Mit der Absage seines Tokio-Besuches hat sich Boris Jelzin möglicherweise eine Demüti- gung erspart, wie sie in jüngster Zeit einige Kollegen in Japans Hauptstadt erlebten

Die Absage kam plötzlich, aber nicht ganz unerwartet. Als Grund für die „Verschiebung“ seines Staatsbesuches in Tokio gab Boris Jelzin in einem Telefongespräch mit dem japanischen Premierminister Kiichi Miyazawa am Mittwoch abend „innenpolitische Probleme“ an. Damit war man in Tokio hochzufrieden. Regierungssprecher Koichi Kato betonte auf einer Pressekonferenz am Donnerstag, Jelzin habe versichert, nicht Japans Regierung für die Absage seiner Reise verantwortlich zu machen. „Wir sind mit Japan nicht unzufrieden“, zitierte Kato den russischen Präsidenten. So konnte sich die japanische Regierung mit einer unverfänglichen Antwort begnügen: Jelzins Absage sei „sehr bedauerlich“, aber daran ließe sich nichts ändern, meinte Premierminister Miyazawa.

Dabei gilt Jelzins Besuch in Tokio bisher nur als verschoben. Ein neuer Besuchstermin ist freilich nicht in Sicht. Auffällig ist, daß Jelzin seine ebenfalls für nächste Woche geplante Korea-Reise auf Mitte Dezember, im Anschluß an einen China-Besuch, verschob — während er für Tokio keinen neuen Termin nannte. Das deutet auf grundsätzlichere Schwierigkeiten zwischen Japan und Rußland hin. Überraschend ist Jelzins Absage schon deshalb nicht, weil vor ihm alle Großen der Welt in Tokio scheiterten. Michail Gorbatschow erlebte in Tokio vor eineinhalb Jahren das einzige außenpolitische Debakel seiner Laufbahn. George Bush sackte im Januar nach einem Schwächeanfall beim japanischen Staatsbankett unter die Tischdecke. Und Chinas Parteichef Jiang Zemin mußte im April in Tokio gar erleben, wie er von der japanischen Regierung zum Bittsteller für den Besuch des japanischen Kaisers in Peking degradiert wurde. Wen kann es also wundern, wenn sich Jelzin die Demütigungen seiner Vorgänger ersparen wollte. Tokio ist eben kein Pflaster für leichte diplomatische Übungen, zumal es sich bei den russisch-japanischen Gesprächen immer noch um den Grenzstreit über die Kurileninseln dreht.

Engste Berater und fast das gesamte russische Parlament hatten ihrem Landesherrn schon vor einiger Zeit empfohlen, die unsichere Japan- Reise lieber abzusagen; sie hielten einen Kompromiß im langjährigen Kurilenstreit für unmöglich. Doch Jelzin demonstrierte Entschlossenheit. Stur wie immer beharrte er auf seinem Japan-Plan, ohne freilich dessen genauere Inhalte bekanntzugeben. Wichtigtuerisch behauptete der Kreml-Chef bis zuletzt, er werde das Geheimnis hinter seinem Besuch erst am Montag in Tokio lüften.

G-7-Staaten drängen auf Lastenverteilung

Daraus wird nun nichts, doch vielleicht haben wir Jelzins Geheimnis bereits erraten. Schon am Montag sickerte im Tokioter Außenministerium durch, woraus Jelzins Vorschlag möglicherweise bestehen sollte: Statt den unseligen Grenzstreit über die Kurileninseln zwischen Moskau und Tokio direkt zu verhandeln, wollte Jelzin, daß beide Länder vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ziehen. Zwar würde das Verfahren dort Jahre in Anspruch nehmen, doch könnte der seit dem Zweiten Weltkrieg ausstehende Friedensvertrag nach Jelzins Auffassung umgehend unterzeichnet werden. Auch der wirtschaftlichen Zusammenarbeit beider Länder, die Tokio bislang von der Lösung der Kurilenfrage abhängig macht, stände dann nichts mehr im Wege.

Dieser russische Vorschlag wurde bisher lediglich von Beamten des Tokioter Außenministeriums, die ihren Namen nicht nannten, bestätigt. Doch die japanische Regierung reagierte auffällig schnell. Japan werde keinesfalls nach Den Haag gehen, betonten Diplomaten am Dienstag in ungewohnter Hast. Schließlich müsse, bevor weitere Schritte der Zusammenarbeit eingeleitet werden könnten, erst das Inselproblem gelöst werden. Ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof aber würde den Grenzstreit auf Jahre hin fortsetzen.

Vielleicht waren es diese harschen Antworten aus Tokio, die Jelzin in letzter Minute zu einer Absage bewogen haben. Vor dem Hintergrund der innerrussischen Opposition gegen einen Territorialkompromiß mit Japan — die jetzt auch in Tokio als alleiniger Grund für Jelzins Absage herhalten muß — wird leicht übersehen, unter welchem Erfolgsdruck Jelzin in Japan gestanden hätte. Ungeachtet seiner Folgen zeigt der diplomatische Aufruhr um Jelzins Besuch in Tokio, daß es in den russisch-japanischen Beziehungen weitaus mehr Spielraum gibt, als manche behaupten. Dabei könnte sich die Den-Haag-Karte schon bald als russischer Trumpf erweisen. Denn alle G-7-Staaten drängen Japan zu einem Übereinkommen mit Rußland, damit sich die Last der finanziellen Hilfe besser verteilen läßt. Ein Kurilenverfahren in Den Haag dürfte dabei allen Beteiligten als der gerechteste Weg erscheinen. Der Haken an der Geschichte: Rechtsexperten geben Japan in Den Haag keine guten Chancen, obwohl das Land die älteren Ansprüche auf die Kurileninseln hat. Doch eine Kurilenlösung zuungunsten Japans würde das Tor zur japanischen Wirtschaftshilfe für Rußland nur einen kleinen Spalt weit öffnen — und wäre deshalb sinnlos. Georg Blume, Tokio