DIE KLEINE MEDIENPRAXIS — FRAU DR. MONIKA ÜBER LEBENDE LEICHEN

Was ist eigentlich mit der taz los, werde ich in der letzten Zeit immer häufiger gefragt. Denn die Geschicke der Medienpraxis und ihrer Patienten sind natürlich eng mit dem Gesundheitszustand dieses Blattes verbunden. Mit Sorgenfalten auf der Stirn bestätige ich dann jedesmal, daß die Situation diesmal wirklich ernst sei — todernst eben. Und über einen Todkranken redet man nicht schlecht, sondern man bemüht sich um seine Rettung.

Also rate ich im Brustton der Überzeugung zum Solidaritäts-Abo, preise angesichts der Kettenbriefaktion den unerschöpflichen Einfallsreichtum der taz (obwohl ich persönlich eher negative Assoziationen bei dieser Form von erzwungenen Briefwechseln habe) und empfehle modebewußten Jungunternehmern, sich statt der Designerliege lieber einen schicken Genossenschaftsanteil zuzulegen. Für die Skeptiker entwerfe ich anschauliche Horrorszenarien über ein Leben ohne taz: keine pointierten Schlagzeilen mehr à la „Asylheim in Brand — Stolpe im Dialog“; keine taz-Interna, durch die wir erfahren, daß der Mann vom Leserservice früher mal in der taz-Kantine gearbeitet hat, und auch keine Seitenreduzierungen mehr, die den Lesern trickreich als spezieller Sommerservice verkauft werden.

Krankheit versöhnt. Von der Welt bis zur Süddeutschen Zeitung, vom bürgerlichen Feuilleton bis zum Branchenbulletin tätscheln alle jetzt die taz. Und selbst die Leserbriefseiten quellen über vor Lobeshymnen. Warum aber steckt die taz dann überhaupt in der Krise?

In schwachen Momenten drängt sich mir eine düstere Erklärung auf: Eigentlich ist die taz schon längst gestorben. Jedes anerkennende Wort aus dem Munde ehemaliger Feinde ist nur ein weiterer Sargnagel für ein Blatt, das offenbar nirgends mehr Anstoß erregt. Auch politische Gegner streicheln mittlerweile den kleinen Papiertiger, weil er so wohlerzogen ist. Eingezwängt in dem Verlangen, es allen recht zu tun, hat sich die taz angepaßt, ist berechenbar geworden. Kalkulierte Provokationen mußten einer konventionellen Nachrichtenhierarchie weichen, spitze Edelfedern wurden durch blasse Faserschreiber ersetzt.

Es ist doch merkwürdig, wie wenig angesichts des drohenden Untergangs über Inhalte geredet wird. Die Rettung ist das Ziel. Was aber, wenn es jenseits konkreter Arbeitsplätze und romantischer Spontiträume nichts zu retten gibt? Wo bleibt der kritische Diskurs über die Qualität der taz? Und zwar ganz praktisch: Wie steht's um Titelseite, Inland, Ausland, Kultur, Medien, Sport. Vielleicht ist der Grund, warum immer weniger Leute die taz lesen wollen, ja ganz einfach: Sie finden sie langweilig.

Aber das denke ich natürlich nur inoffiziell und schäme mich sofort dafür. Denn wie könnte eine Zeitung, die als Mittel gegen Nachrichtenunterdrückung erfunden wurde, zu Hausbesetzers Zeiten groß wurde und mit sensationellen Stasi-Enthüllungen glänzte, plötzlich langweilig geworden sein? Schuld daran ist nur der Bossanova — nein, pardon —, der wild umkämpfte Berliner Zeitungsmarkt natürlich. Darum predige ich meinen Patienten weiterhin bedingungslose Solidarität und denke dabei manchmal insgeheim an Rosa von Praunheims Motto: „Unsere Leichen leben noch!“

Herzlichst Ihre