Wenn der Allergietest nicht reicht

■ Immer mehr Gift in der Umwelt macht immer mehr Menschen krank. Trotzdem gibt es weder einen Lehrstuhl für klinische Ökologie noch die Bezeichnung Umweltmedizin

Immer mehr Gift in der Umwelt macht immer mehr Menschen krank. Trotzdem gibt es weder einen Lehrstuhl für klinische Ökologie noch die Bezeichnung Umweltmedizin. VONKLAUS-DIETRICHRUNOW

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er Arzt soll Krankheiten heilen und deren Ursachen bekämpfen. Wer jedoch bei umweltbedingten Erkrankungen versucht, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen, stößt trotz ständig steigender Patientenzahlen auf ungeahnte Widerstände von Standesorganisationen, Behörden und Krankenkassen. Die Umweltmedizin, auch klinische Ökologie genannt, ist immer noch ein Stiefkind jener, die das medizinische Geschehen in der Bundesrepublik bestimmen.

Bislang gibt es weder einen Lehrstuhl für klinische Ökologie noch eine Fachbezeichnung Umweltmedizin — anders als in vielen anderen Ländern. Dafür schlagen sich in der Bundesrepublik etliche Vertreter der verschiedenen medizinischen Disziplinen um das Fach und damit auch um die Patienten.

Besonders engagiert beanspruchen Hautärzte die Umweltmedizin für sich. Aber auch Hygieniker, die eigentlich Mikroben untersuchen und Krankenhäuser desinfizieren, melden Ansprüche an. Kaum jemand denkt daran, daß nicht eine Fachgruppe mit einem engbegrenzten Spektrum allein umweltbedingte Krankheiten erkennen und behandeln kann. Denn Umweltgifte schädigen nicht nur einzelne Organe des Menschen — die Zusammenhänge und Wirkungen sind viel komplexer.

Dieses unsinnige Kompetenzgerangel geht auf Kosten der Kranken. Was dringend gebraucht wird, ist ein interdisziplinärer Fachbereich Umweltmedizin, an dem Arbeitsmediziner ebenso mitwirken wie Hautärzte, Toxikologen und Hygieniker, aber auch Nicht-Ärzte wie Lebensmittelchemiker, Ernährungswissenschaftler, Psychologen und Physiker. Ein Beispiel aus dem Institut für Umweltkrankheiten (IfU) verdeutlicht, daß dringend Handlungsbedarf besteht: Vor einiger Zeit kam eine Patientin ins IfU, die unter Haarausfall und Schmerzen am ganzen Körper litt. Die ständigen Schmerzen hatten sie stark depressiv und arbeitsunfähig gemacht. Sie geriet in private und finanzielle Schwierigkeiten, zwei Selbstmordversuche folgten — eine 15monatige Karriere in der Psychiatrie begann.

Patienten müssen Kosten selbst bezahlen

Ihre Klagen über einen seltsamen Metallgeschmack im Mund und die Behauptung, daß die ganzen Probleme nach dem Einsetzen von Goldplomben begonnen hätten, nahm niemand ernst, weil die Standard-Allergie-Tests kein Ergebnis gebracht hatten. Weitergehende Spezialuntersuchungen im IfU förderten jedoch eine Palladiumallergie zu Tage — Palladium ist in einigen billigen Goldlegierungen enthalten, die die Zahnärzte wegen der Kostendämpfung im Gesundheitswesen vermehrt verwenden.

Nachdem die Plomben entfernt waren, verschwanden auch Schmerzen und Depressionen. Was nun kam, war der Kampf mit den Institutionen. Denn das IfU hat keine kassenärztliche Zulassung, die Patienten müssen ihre Rechnungen privat bezahlen. Zwar übernehmen die meisten gesetzlichen Kassen inzwischen die Kosten, wenn die Ärzte am Heimatort der Patienten nicht mehr weiterwissen und die Kranken nach Emstal zur Spezialdiagnostik schicken. Aber manche weigern sich beharrlich — so auch die Krankenkasse der Palladiumallergikerin, die Barmer Ersatzkasse. Die nutzlose, lange und stationäre Psychiatriebehandlung hatte die Versicherung klaglos bezahlt. Die zwanzigmal günstigere und erfolgreiche Diagnostik im IfU soll die Patientin aus eigener Tasche zahlen — dazu hat sie dann aus einem Sonderfonds des Bundespräsidenten einen Betrag als Unterstützung erhalten.

Das IfU hat deshalb keine Kassenzulassung, weil Beschränkungen, denen Kassenärzte in vielen Bereichen unterliegen, eine gezielte umweltmedizinische Diagnostik unmöglich machen würden. Denn wer als Kassenarzt Spezialuntersuchungen wegen Verdachts auf eine umweltbedingte Krankheit anordnet oder ungewöhnliche Behandlungsmethoden benutzt, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Notwendige Spezialuntersuchungen sind teuer, oft müssen die Proben bis in die USA geschickt werden. Auf den Kosten bleibt ein Kassenarzt jedoch leicht sitzen, wenn die kassenärztliche Vereinigung dann entscheidet, daß die Untersuchung überflüssig war.

Auf merkwürdige Weise werden hierzulande die Statistiken von umweltbedingten Krankheiten frei gehalten. Vor einiger Zeit rief das Bundesgesundheitsamt in Berlin (BGA) die Ärzte auf, Untersuchungsergebnisse von Patienten zu melden, bei denen eine Vergiftung auch mit Umweltschadstoffen zu vermuten ist. Doch läßt sich ein entsprechender Verdacht oft nur durch aufwendige und teure Tests erhärten. Die aber darf der Kassenarzt nicht mit der Kasse abrechnen. Die Kosten für diese Untersuchungen werden von seinem Honorar abgezogen. Welcher Arzt wird diese Untersuchung unter diesen Bedingungen durchführen? Also unterbleiben diese Tests, folglich gibt es kaum Meldungen, und die Statistik bleibt sauber — frei von Umwelterkrankungen.

Diagnose-Programm für Umwelterkrankungen

Abgesehen davon können die meisten Ärzte so aufwendige und komplizierte Untersuchungen wie etwa auf eine PCB- oder Lösungsmittelbelastung gar nicht durchführen, für die auch zum Teil ausländische Labors beauftragt werden müssen. Und leider wissen die wenigsten, daß es solche Möglichkeiten überhaupt gibt. Denn Medizinstudenten müssen zwar jede Menge überflüssigen Ballast pauken — aber die Erkennung umweltbedingter Krankheiten, ihre Diagnostik und Behandlung gehört immer noch nicht zum Lehrplan. Und auch die entsprechenden Fortbildungsangebote für approbierte Ärzte sind mehr als dürftig.

Abhilfe ist hier dringend nötig. Auch muß sich baldmöglichst ein Standarddiagnose-Programm für umweltbedingte Krankheiten durchsetzen, das möglichst viele Ärzte beherrschen. Dazu gehört zunächst eine Schadstoffanalytik, die zeigen soll, ob der Patient mit Pestiziden, Lösungsmitteln, Polychlorierten Biphenylen (PCB) und Pentachlorphenol (PCP) belastet ist. Weil Umweltschadstoffe auch das Immunsystem durcheinanderbringen, muß dessen Untersuchung ebenfalls in die Standarduntersuchung mit einbezogen werden: Hier ist vor allem eine Untersuchung der beiden Abwehrsystem- Faktoren IgG und IgE (Immunglobuline vom Typ G und E) wichtig.

Auch der Zustand des Mineralstoff- und Vitaminhaushalts eines Kranken kann wichtige Hinweise liefern, denn zumeist sind belastete Patienten mit diesen lebenswichtigen Stoffen unterversorgt. Besteht ein Verdacht auf eine Umweltbelastung, sollte auch eine genaue Untersuchung der Zähne auf Amalgam und Palladium zum Standard gehören. Die Untersuchung darf allerdings nicht bei Laborwerten und körperlicher Untersuchung stehenbleiben: Analysen der Schadstoffbelastung in der Wohnung und am Arbeitsplatz müßten ebenso selbstverständlich werden wie das Einbeziehen der Lebensgewohnheiten.

Dr. med. Klaus-Dietrich Runow ist seit 1985 Leiter des Instituts für Umweltkrankheiten in Emstal.