■ AUS POLNISCHER SICHT: »Toleranzionismus«
Seit längerer Zeit wird in der polnischen Öffentlichkeit behauptet, Polen sei ein unstabiles Land. Erst der Kommentator der Gazeta Wyboroza, Michal Ogorek, hat richtig darauf hingewiesen, daß diese Unstabilität in dem Umstand besteht, daß Polen an keinen einzigen Staat mehr grenzt, an den es noch 1989 grenzte (UdSSR, DDR, CSSR).
Eine andere Art Stabilität ist in Polen stets gewährleistet: eine außergewöhnlich hohe Quote Erleuchteter, die sich öffentlich äußern, zeugt von enormen Stabilitätsreserven der polnischen Gesellschaft, die trotzdem nicht verrückt spielt. In einer Diskussion im polnischen Fernsehen zum Thema Toleranz und Barmherzigkeit wurde das leidvolle Thema Aids, HIV-Positive und die Ausschreitungen vor den Heimen für die infizierten Kinder verhandelt. Ein junger, eifriger Priester sah das Heil für die Lage, die nach der gerechten Strafe Gottes (Aids) entstanden ist, in einem fundamentalistisch organisierten Religionsstaat. Er argumentierte wie folgt: Die Toleranz ist keine katholische Tugend, dagegen ist jedoch die Liebe eine, und wenn man per Gesetz verordnen könnte, daß die mit Aids und HIV bestraften Sünder geliebt werden müssen, würden sie auch geliebt!
Damit kein einseitiges Bild des polnischen Klerus entstünde: der andere junge Priester, der an der Diskussion teilnahm — einer der aktivsten Kämpfer für die Rechte und die Würde der Leidenden —, hat die Formulierungen des ersten aufs schärfste zurückgewiesen, ja, er hat sogar das Unerhörte gemacht, indem er für Kondome warb!
Den Gipfel der Erleuchtung — selbst für polnische Verhältnisse — stellte eine Äußerung von Jacek Bartyzel dar, einem ultrakonservativen Warschauer Intellektuellen: Eine neue Diktatur werde den Polen aufgezwungen: die des Toleranzionismus. Man dürfe nicht mehr die Sachen beim Namen nennen. Der Satz »Der Homosexualismus ist eine Deviation« habe einem Staatssekretär den Posten gekostet.
Recht hat der Mann: dem Toleranzionismus muß schnellstens Einhalt geboten werden, es muß endlich öffentlich gesagt werden, daß das Leben im Zölibat eine Deviation darstellt. Gott hat doch die Menschen dazu geschaffen, daß sie sich mehren! Auch das Durchlöchern der Ohren, Färben der Haare, Rasieren und ähnliches ist wider die Natur und wider Gottes Ordnung. Übrigens bin ich auch für die teilweise Abschaffung des Toleranzionismus: Die Toleranz muß bei den Gegnern der Toleranz aufhören. Piotr Olszowka
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