: DER TRAUM VOM LEICHTEN LEBEN
■ Ein paar Orangen, etwas Trockenfisch, süße, runde Teigwaren, eine Flasche Gin und die Hoffnung auf einen Käufer. Unter Frauen in Accra, der Hauptstadt Ghanas
Ein paar Orangen, etwas Trockenfisch, süße, runde Teigwaren, eine Flasche Gin und die Hoffnung auf einen Käufer. Unter Frauen in Accra, der Hauptstadt Ghanas
VONGABRIELASIMON
Saadatu hat ihren Gebetsteppich ausgebreitet. Im Mondlicht zeichnen sich die Umrisse ihrer schlanken Gestalt ab, wie sie sich nach vorn bewegt, auf dem Boden zusammengekauert, mit der Stirn den Boden berührt, wieder aufsteht, sich wieder nach vorn beugt, zusammenkauert. In einer halben Stunde werden die ersten Lichtstrahlen den Tag ankündigen. Kinder huschen über den Hof, so geräuschlos wie Saadatu bei ihrem Morgengebet. Nacktheit stört um diese Zeit noch nicht. Eine kleine, gefüllte Wasserkanne genügt für die morgendliche Wäsche. Kein Wort fällt, alles ist wie jeden Tag. Später, in der Dämmerung, beginnt Adowa den Hof zu fegen, an den Kochstellen steigt der erste Rauch auf, die Hühner sind jetzt wach, die Ziegen, die immer etwas tapsig auf der Suche nach Eßbarem durch das Viertel streunen, aus der Nachbarschaft hallen die ersten Rufe, Kindergeschrei, irgendwo ertönt ein Radio — der Tag in Accra beginnt.
Saadatu hat es jetzt eilig, ihre doughnuts zu backen, süße, runde Teigwaren, die sie vormittags auf der Straße verkauft; nebenbei gibt sie ihren zehn Kindern die nötigen Anweisungen für den Tag, und eine Zeitlang überlagert Saadatus helle Stimme alle anderen Geräusche im Compound, dem Gehöft — die traditionelle Wohnweise, die auch der Millionenstadt Accra ein ländliches Gepräge gibt. Meist ist es ein rechteckiger Innenhof, von flachen, mit Wellblech bedeckten Häuschen eingegrenzt, im Hof die Kochstellen, ein paar Bäume vielleicht, ein paar Schemel; der Ort des familiären Lebens ist von der Umgebung abgeschirmt, aber gleichzeitig so offen, daß jeder Nachbar ungezwungen hereinspaziert. In Saadatus Compound wohnt noch ein junges Ehepaar mit Kindern, ein einzelner Mann und Adowa, die auch alleine in einem gemieteten Zimmer lebt. Geschickt wie Saadatu die tausend Kleinigkeiten des Tagesbeginns koordiniert, wird sie unwillkürlich zum Mittelpunkt ihrer großen Familie: hier fehlt noch ein Hemd, dort die Badeschlappen, die Schulsachen müssen komplett sein, die Doughnuts werden immer wieder gewendet und, wenn sie fertig sind, in eine Vitrine gestapelt. Einer der großen Söhne Saadatus hilft ihr, die gefüllte Vitrine auf ihren Kopf zu heben, und dann, als ob das überhaupt nichts wäre, was da auf ihrem Kopf lastet, schreitet Saadatu mit weichem, federnden Gang über den Hof, balanciert auf einem schmalen Brett über den mit Dreck gefüllten Graben, der den Compound von der Umgebung trennt, und sie vergißt dabei nicht, ihrer Familie zum Abschied noch etwas Lustiges zuzurufen.
Adowa interessiert sich für Musik. Highlife, Reggae, alles was klingt und Gefühl hat. Manchmal, an den träge ausklingenden Nachmittagen im Compound, wenn die Kinder allmählich von der Schule wieder eintrudeln, wenn die Händlerinnen durch den Hof schlendern und Orangen feilbieten, Heilkräuter oder Kinderkleider, und dabei jeden einzelnen höflich begrüßen, manchmal also, an solchen Nachmittagen, träumt Adowa gerne ein bißchen den Traum vom leichten Leben, von Musik, von einem Kassettenrecorder, schönen Kleidern. Adowa ist ein Stadtkind. „Ich will unabhängig sein“, sagt sie mit fester Stimme, und dabei wirkt sie extrem zerbrechlich, feinnervig, ihre Augen sind oft unruhig, und die Hände scheinen immer ein bißchen zu zittern.
Früher, in der Kolonialzeit, konnten junge alleinstehende Frauen in den Städten praktisch nur als Prostituierte, als Köchin oder als Schnapsbrennerinnen arbeiten. Aber diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Adowa versucht es mit Kochtöpfen. Moderne, importierte Emmailletöpfe, bezahlbar in Raten, 100 Cedis (rund 45 Pfennige) pro Tag. Mittags und am frühen Abend macht Adowa in ihrem Stadtteil ihre Runde, verkauft und sammelt die 100-Cedi-Beträge ein, über die sie zu Hause gewissenhaft Buch führt. Und Adowa vollbringt mit einem Kapitaleinsatz von ungefähr 100 Mark immerhin die ökonomische Leistung, diesen durch Ratenzahlung erschwinglich zu machen. Doch eine ausreichende Existenzgrundlage hat sie damit nicht. Adowas Familie ist zerrissen. Sie lebt über das ganze Land zerstreut, und Adowa in ihrer Traumwelt, irgendwo im Niemandsland, denn zu Saadatus traditioneller Welt des intakten Familienlebens gehört sie ebensowenig wie zu der Welt des Habens, des Konsums, von der sie träumt. „Sister“, sagt sie, „nimm mich mit nach Deutschland.“
Heiraten ist heute nicht mehr so einfach
Manchmal an solchen Nachmittagen schaut sie ein bißchen neidisch zu Saadatu hinüber. Eigentlich hat Saadatu großes Glück. Zehn Kinder und ein Mann, der arbeitet, bei ihr bleibt und keine Nebenfrauen hat. Die Mädchen helfen beim Kochen, abends sieht man die Söhne Fufu stampfen, das ghanaische Leibgericht, ja, Saadatu hat großes Glück. „Heiraten“, sagt Adowa, „weißt du, das ist heute nicht so einfach.“ Wie viele Frauen in der Nachbarschaft reagieren auf die Frage nach dem Ehemann nur noch mit resigniertem Schulterzucken. Wann hat er sich zuletzt blicken lassen? Vor ein paar Monaten, ein paar Wochen? Hat er wenigstens Geld mitgebracht für die Kinder? Ein altes, leidiges Problem. Und mit der Wirtschaftskrise in den Städten, der Welle von Entlassungen, mit dem ständigen Herumziehen der Männer auf der Suche nach Jobs, nach Gelegenheitsarbeiten, hat sich der Riß in den Geschlechterbeziehungen noch vertieft. „Ein Mann respektiert dich heute nur noch, wenn du Geld hast“, sagt Adowa, und damit ist zum Thema Heiraten eigentlich alles gesagt.
Abends geht Adowa in ihre Kirche, vorbei an den Gruppen moslemischer Gläubiger, die sich in der Dämmerung mit ihren Gebetsteppichen auf der Straße versammeln. Adowas Kirche ist eine der vielen christlichen Splitterkirchen, in denen die europäische Tradition gründlich afrikanisiert wurde. Trommeln, Rhythmen und Gesang prägen den Gottesdienst, die Atmosphäre ist laut und überschwenglich emotional. Praise the Lord! Praise the Lord! Der Prediger predigt nicht eigentlich, er schreit, singt, tanzt, ist ein Bündel von Energie, ganz darauf konzentriert, der Schar der Gläubigen den Übergang in die Ekstase zu erleichtern. Praise the Lord! Zungenreden ist eine Art des Betens, bei der man spricht, ohne zu denken, ohne Worte zu bilden, viele schließen dabei die Augen, manche murmeln leise vor sich hin, manche schreien laut, schreien alles aus sich heraus. Dann wieder die Trommeln, der Rhythmus, der Gesang. Allmählich wirken die Gesichter gelöst, inspiriert. God will provide. God will provide. Gefühle durchströmen den Raum, der Gesang geht durch den Körper in die Füße, wird zum Tanz, viele heben die Hände, so als wollten sie den Geist Gottes, den „spirit“, um den es eigentlich geht, durch die Handflächen aufnehmen. Nach ein paar Stunden ist die Harmonie mit Körper und Seele wiederhergestellt, und wenn Adowa später in ihren Compound zurückkehrt, hat sie ihr Lachen wiedergefunden. Vielleicht nimmt sie dann ihren Schemel und setzt sich zu ihrem Nachbarn, der auf den Stufen vor seinem Zimmer hockt, weil auch er alleine wohnt, dann plaudern sie noch eine Weile im Schein der Kerosinlampe, denn der Strom fällt in Adowas Viertel fast jeden Abend aus, plaudern über Musik, Kassetten, denn der Nachbar hat einen Kassettenrecorder, der nur leider kaputt ist, aber was soll's, der Strom fällt ja fast jeden Abend aus, und Adowa hat sowieso kein Geld für Kassetten.
Spät in der Nacht, wenn Adowa längst schläft, dröhnt die Musik in den Freiluft-Discos im Zentrum Accras. Die Tänzer breiten die Arme aus, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, die Augen halb geschlossen, die Hüften dem Rhythmus überlassend — Highlife, Ghanas Zaubermusik für die Nächte, die fast so heiß sind wie der Tag. „Geld ist Blut“ schreit es aus den Lautsprechern, der Refrain eines zur Zeit beliebten Highlife-Songs.
„Geld ist Blut“, und Blut ist für die Ghanaer die Grundsubstanz des Lebens. Ohne Blut kein Leben. Zynisch könnte man behaupten, dieser Song sei der eigentliche Erfolg des wirtschaftlichen Sanierungsprogramms, mit dem Weltbank und Internationaler Währungsfonds seit 1983 versuchen, Ghana zum Testfall der marktwirtschaftlichen Liberalisierung in Afrika zu machen. „Geld ist Blut.“ Früher einmal war es Gold. Gold und Sklaven. „Goldküste“ wurde Ghana bis zu seiner Unabhängigkeit 1957 genannt. Anfang dieses Jahrhunderts, unter der britischen Kolonialherrschaft, wurde Kakao zum wichtigsten Produkt, Kakao für den Genuß der Europäer. Noch in den 60er Jahren, Jahre nach der Unabhängigkeit, war das relativ kleine Land der größte Kakaoproduzent der Welt. Gold, Diamanten und Bauxit aus Ghana hatten damals einen Weltmarktanteil von 25 Prozent — Ghana war ein „reiches“ Land.
Gerade genug zum Überleben
„Geld ist Blut“, heißt es heute; der Reichtum des Landes bemißt sich in Deviseneinnahmen, und immer noch muß dafür die Substanz des Landes verkauft werden; die Kakaoexporte steigen, der Bergbau boomt, schon ist von einem neuen „Goldfieber“ die Rede, und selbst in den kläglichen Resten des tropischen Regenwaldes wird der Holzschlag für den Export noch beschleunigt. Der Reichtum der kleinen Leute jedoch bemißt sich in Cedis, und der tägliche Kampf darum ist im Zuge des IWF-Programms deutlich härter geworden. Myriaden von fliegenden Händlerinnen bevölkern die Straßen im Zentrum Accras, die meisten wie Adowa ohne Lizenz und ohne eigenen Verkaufsstand, ihre Ware auf dem Kopf, nicht viel, ein paar Orangen vielleicht, ein Dutzend hartgekochter Eier, etwas Trockenfisch, ein bißchen Stoff, vielleicht eine einzige Flasche Gin, die in der Hoffnung auf einen Käufer stundenlang, tagelang, mit traumwandlerischer Sicherheit über die ungepflasterten Straßen Accras balanciert wird, in der zermürbenden Hitze, dem Staub und den Abgasen, und am Ende so eines Tagewerks sind ein paar Orangen verkauft, ein paar Cedis verdient, gerade genug für das Überlebensnotwendige, vielleicht.
Und doch erscheint das Wort „Überlebenskampf“ höchst unangemessen, beinahe eine Beleidigung für die stoische Souveränität, diese fast überirdische Gelassenheit der „sisters“ auf den Straßen. Nie würde es einer ghanaischen Straßenhändlerin einfallen, ihre schwebende Gangart für den harten europäischen Hetzschritt einzutauschen, nie würde es ihr in den Sinn kommen, ein zufällig angefangenes Lächeln nicht zu erwidern. Manchmal, wenn man nur lange genug in der heißen Nachmittagssonne umherschlendert und der beginnende Sonnenstich schon seine Wirkung tut, könnte man auf die Idee kommen, dies alles sei die öffentliche Inszenierung einer Lebensphilosophie, eine kollektive Darstellung von Würde oder der Kunst, über den Dingen zu stehen. Und haben nicht sogar die schrottreifen und stets überfüllten Busse, die sich durch die staubigen Straßen quälen, stets einen tiefsinnigen Spruch auf ihrer Stirnseite aufgemalt, eine Losung voller Ironie, einen Fetzen Lebensphilosophie? „No condition is permanent“, gehört neben dem unvermeidlichen „God will provide“ zu den beliebten Sprüchen; oder auch dieser: „Cry your own cry!“
Cry your own cry
Schlagartig verändert sich die Szene, wenn die Polizisten mit den gelben Hemden auftauchen. Sie machen Jagd auf illegale Händlerinnen. Oft sieht man einen einzigen Polizisten eine ganze Schar von Händlerinnen vor sich hertreiben, im Laufschritt, die Händlerinnen nur mit ihren Waren fest in den Händen — eine wird schließlich gefaßt, nein, nicht irgendeine, nicht die mit den Plastiktüten oder die mit den Streichhölzern, eine Preisklasse höher muß es schon sein, Stoffe zum Beispiel, oder Geschirrtücher; der Polizist greift nach der Ware, und die Frau sinkt auf die Knie, fleht, bittet, weint, das ist alles, was sie besitzt, ihr ganzes Kapital, aber zwecklos, ihre Sachen sind beschlagnahmt. Der Handelssektor, sagen die Ökonomen, gehört zu den Gewinnern des IWF-Programms, denn sein Anteil an der Wertschöpfung ist gestiegen. Wie schön die Fachleute doch so etwas immer ausdrücken können!
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