INTERVIEW
: „Unsere Geschichte macht einen Sprung nach vorn“

■ Der brasilianische Soziologe Herbert de Souza zur hausgemachten Regierungskrise Collor

Herbert de Souza ist Vorsitzender des Brasilianischen Instituts für soziale und wirtschaftliche Analysen, IBASE, in Rio. Der Soziologe ist einer der führenden Köpfe der brasilianischen Bewegung für Ethik, in der sich Parlamentarier, Gewerkschafter, Kirchenvertreter und Nichtregierungsorganisationen zusammengeschlossen haben, um die Öffentlichkeit für die Amtsenthebung Präsident Collors zu mobilisieren.

taz: Ist die brasilianische Regierungskrise positiv oder negativ?

Herbert de Souza: Die Ursachen, die zur jetzigen Krise geführt haben, bedeuten ein enormes Risiko für das Land. Ein Präsident, der sich nicht im geringsten ethischen Maßstäben verpflichtet fühlt, hat den Regierungsapparat überfallen. Die Reaktion der Gesellschaft jedoch ist außerordentlich positiv. Es ist, als ob Brasilien über einen langen Zeitraum hinweg eine demokratische Energie in sich aufgestaut hätte, die sich jetzt entlädt. Im vergangenen Jahr war eine Amtsenthebung von Präsident Collor noch undenkbar. Heute sind nur noch Collor und einige hundert Personen dagegen. Die Geschichte Brasiliens hat einen Sprung nach vorne gemacht.

Was bedeutet die brasilianische Entwicklung für Lateinamerika?

Glücklicherweise gibt Brasilien in politischer Hinsicht ein positives Beispiel ab. Die Ereignisse zeigen, daß wirtschaftliche Entwicklung, Pro- Kopf-Einkommen und Demokratie nicht zwangsläufig miteinander verbunden sind. Die Leute müssen nicht reich sein, um über politische Bildung und moralische Werte zu verfügen. Außerdem ist Lateinamerika nicht zwangsläufig ein Kontinent der Militärregierungen, die Völker können sich selbst regieren. Das könnte die anderen Länder positiv beeinflussen. Die neoliberale Katastrophe in Peru wird sich in Brasilien sicherlich nicht wiederholen.

Was passiert, wenn es Collor gelingt, das Impeachment abzuschmettern?

Wenn Collor nicht abtritt, wird sich die brasilianische Regierungskrise verschlimmern, Regierung und Nation werden in Scheidung leben. Eine völlig demoralisierte Regierung, eine immense Enttäuschung über den brasilianischen Kongreß und zunehmende soziale Spannungen innerhalb der Gesellschaft werden die Folge sein.

Könnte es zu sozialen Unruhen kommen?

Wie wird die Jugend, die für das Impeachment auf die Straße gegangen ist, reagieren? Die Luft ist elektrisch geladen. Niemand weiß, wo und wann der Blitz einschlägt.

Wie sähe eine zukünftige Regierung unter Vizepräsident Itamar Franco aus?

Collor war eine politische Unbekannte und ist jämmerlich gescheitert. Auch Itamar ist in gewisser Weise ein Neuling. Viele befürchten, daß sich die negative Erfahrung mit ihm wiederholen könnte. Ich persönlich glaube das jedoch nicht. Itamar verfügt über eine persönliche Eigenschaft, die in diesem Moment entscheidend ist: Er ist nicht korrupt. Auch wenn seine Regierung nicht brillant sein wird, zumindest hält er sich an die demokratischen Institutionen.

Wird Itamar Franco das neoliberale Wirtschaftsmodell ändern? Viele Unternehmer sehen Brasilien schon am Abgrund...

Dies sind die typischen Argumente von Unternehmern, die Komplizen Collors sind. Die Arbeiten des Untersuchungsausschusses haben deutlich bewiesen, daß viele Unternehmer sich aktiv an der Korruption beteiligt haben. Diese Unternehmer können Itamar nicht ernsthaft kritisieren. Ich glaube jedoch, daß Itamar den bisherigen Kurs nicht verändern wird. Er wird versuchen, Neoliberalismus mit Sozialdemokratie zu vereinbaren. Vielleicht gelingt es ihm sogar mit seiner Glaubwürdigkeit, die Steuerreform durchzuziehen.

Was wird sich in den nächsten zwei Jahren politisch in Brasilien tun?

Nicht viel Neues. Die entscheidenden Veränderungen passieren jetzt. Die wichtigste Neuheit ist der Sieg der demokratischen Institutionen über jegliche Art von Staatsstreich oder Militärputsch. Die Vorherrschaft der Ethik über die Korruption. Außerdem haben die Brasilianer entdeckt, daß sie auch ohne Regierung überleben können. Zwar ist Collor politisch am Ende, doch Brasilien ist deswegen noch nicht im Abgrund versunken. Der Kongreß funktioniert, und die Justiz arbeitet. Brasilien ist das einzige Land der Welt, in dem das Gerücht, Präsident Collor würde zurücktreten, die Börsenkurse ansteigen läßt.

Ist das Verhalten Collors normal?

Ich habe von Anfang an die Meinung vertreten, daß die Persönlichkeit des Präsidenten von Brasilien von einer beträchtlichen Dosis Verrücktheit gekennzeichnet ist. Um Collors Verhalten zu analysieren, bedarf es nicht nur eines Politikwissenschaftlers, sondern in erster Linie eines Psychiaters. Collors Abkoppelung von der Realität ist leicht zu erkennen. Macht, und insbesondere die Macht eines Präsidenten, ist in Brasilien eine verrückte Angelegenheit. Wenn jemand Präsident wird, betrachtet er sich automatisch als Halbgott, als eine Art übernatürliches Wesen. In der Bevölkerung wird diese Auffassung geteilt. Es tritt ein ähnliches Phänomen ein wie beim Papst. Die Zerstörung des Präsidentenmythos ist eine weitere fundamentale Konsquenz der jetzigen Regierungskrise.