DEBATTE
: Verfassungsdebatte im Traumland

■ Das Grundgesetz darf erst geändert werden, wenn der Verfassungsänderungsprozeß vom täglichen Politikprozeß abgekoppelt ist

Die „Gemeinsame Verfassungskommission“ berät in Bonn über Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes. Das Ergebnis scheint gewiß: Ein Europa-Artikel wird Formen der Mitsprache der Bundesländer bei der Übertragung von Kompetenzen auf die Europäische Gemeinschaft regeln, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen wird als Staatsziel verankert, der Länderfinanzausgleich wird korrigiert, vielleicht wird es darüber hinaus noch die eine oder andere normative Änderung geben. Ändern wird sich real nicht viel.

Parallel zum institutionellen Verfassungsänderungsprozeß via „Gemeinsame Verfassungskommission“ läuft ein nicht-institutionalisierter: Alle Zeichen der Zeit signalieren, daß die Unverletzlichkeit der Wohnung in Art.13 angetastet, daß das Recht auf Asyl gemäß Art.16 Abs.2 und die Rechtsweggarantie des Art.19 Abs.4 für politisch Verfolgte aufgehoben und daß der Auftrag der Bundeswehr über die Verteidigung gemäß Art. 87a hinaus auf Kampfeinsätze im Rahmen der UN erstreckt wird.

Im institutionalisierten Verfassungsänderungsprozeß wird über Grundgesetzänderungen unabhängig vom Politikprozeß räsoniert, und deswegen bleibt es bei kosmetischen Korrekturen; im Politikprozeß wird über Verfassungsänderungen entschieden, die diesen Politikprozeß selbst verändern, weil sie dessen politisches Koordinationssystem verschieben. Während das Original des nicht-institutionalisierten Verfassungsänderungsprozesses als Ergebnis politische Realitäten verändert, schafft es dessen Kopie lediglich, die rechtlichen Bilder über die Realitäten zu schönen.

Was folgt hieraus? Horst Meier meint, „den Horizont der Verfassungsdiskussion solle sich niemand von den Verhältnissen, von den letzten Einsichten der Unionschristen oder den vorletzten Leitanträgen sozialdemokratischer Parteitage vorgeben lassen“. Nett gesagt, lieber Horst (taz vom 16.9.91), aber was nützt uns politisch Deine Erkenntnis? Mit Dir mag man Phantasielosigkeit und mangelnde intellektuelle Tiefenschärfe der Verfassungsdiskussion beklagen. Es gibt viele Gründe, Deine Auffassung zu teilen. Naiv ist es allerdings, anzunehmen, man könne in einer müden Verfassungsdiskussion durch intellektuelle Brillanz das Feuer geistiger Auseinandersetzung entfachen. Der institutionalisierte Verfassungsänderungsprozeß hat deswegen das geistige Niveau, das er hat, weil ihm die machtpolitische Prämisse zugrunde liegt, es solle sich nichts ändern. Derjenige, der nichts ändern will, wird seinen intellektuellen Anstrengungen enge Grenzen anlegen, über Änderungen zu debattieren, die er nicht für notwendig hält. Intellektuelle Höhenflüge lassen sich am besten durch Schweigen ausbremsen, wenn man nicht mitfliegen will.

Also: Im institutionalisierten Verfassungsänderungsprozeß werden unsere verfassungspolitischen Hoffnungen nicht erfüllt werden, und im Politikprozeß sind Verfassungsänderungen zu erwarten, die wir nicht wollen. Eigentlich war ein solches Ergebnis vorauszusehen: Diejenigen, die im politischen Alltag in Amt und Würden sind, werden nicht dann, wenn sie über Verfassungsänderungen debattieren, Vorstellungen vertreten, die — wenn sie realisiert werden würden — sie um Amt und Würden bringen. Eine Verfassungsdebatte, die bestimmt wird von Politikern, die aktuell Politik betreiben, wird argumentativ die Argumente reproduzieren, die auch im übrigen in der Politik gelten. Wer etwas anderes angenommen hat, ist der Illusion verfangen, die der Einigungsvertrag suggeriert: Der dort enthaltene Auftrag an den Gesetzgeber, über Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes zu beraten, war bloß eine Referenz an die Opposition in der ehemaligen DDR. An eine wirkliche Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes war nicht gedacht.

Es mag eingewandt werden, auch unabhängig von den Ergebnissen einer Verfassungsdebatte habe eine solche Debatte einen Zweck in sich selbst: Verfassungsdebatten sind Selbstverständigungsdebatten einer Gesellschaft, die gerade in Umbruchzeiten eine für die Gesellschaft einigende Funktion erfüllen. Richtig. Die Kehrseite ist jedoch, daß Verfassungsdebatten notwendigerweise die geltende Verfassung delegitimieren. In Zeiten, in denen faktisch eine Grundgesetzrevision durchgesetzt wird, die dem Gegenteil meiner politischen Vorstellungen entspricht, scheint mir eine Verfassungspolitik, die nicht ihrerseits durch pointierte Forderung nach einer Verfassungsdebatte die geltende Verfassung delegitimiert und die das Grundgesetz als Grenze politischen Handels begreift, realitätstüchtiger.

Gewiß ist zu überlegen, ob die sozialen, ökonomischen, außenpolitischen und ökologischen Probleme noch adäquat im Rahmen des Grundgesetzes gelöst werden können. Wenn allerdings der Bundesinnenminister dem Argument, das Asylverfahrensgesetz sei verfassungswidrig, salopp mit dem Einwand begegnen kann, dann müsse eben die Verfassung geändert werden, und seine Entgegnung keinen Sturm der Empörung auslöst, dann zeigt sich im politischen Alltag ein Verlust an verfassungsrechtlicher Orientierung, die offenbar alles möglich macht und nichts ausschließt. In einer solchen Situation die Verfassungsdebatte forcieren zu wollen erinnert arg an jenen, der den Ast absägt, auf dem er sitzt.

Auf die rhetorische Frage Horst Meiers, wann, wenn nicht jetzt, soll das Grundgesetz geändert und ergänzt werden, lautet meine Antwort: Morgen, und nur dann, wenn es gelingt, den Verfassungsänderungsprozeß vom alltäglichen Politikbetrieb abzukoppeln. Dr. Uwe Günther

Rechtsanwalt und Geschäftsführer des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins