: Mit weniger mehr machen
Eine Reise in Provinztheater der ehemaligen DDR — Dritte Folge: Zeitz in Sachsen-Anhalt ■ Von Klaus Nothnagel (Text) und David Baltzer (Fotos)
Das „Clubtheater“, der kleinere Spielort des Zeitzer Theaters, hat es schwer mit seiner Umgebung: Gut dreimal solang wie das hübsche Theaterhaus mit Restaurant ist die Leichtblechhalle des „Penny-Marktes“. Das strahlende Weiß des zweiflügeligen Theaterbaus mit den großen Fenstern wird rechterseits vom Graubraun der Halle attackiert. Auf dem sandigen Großparkplatz des Billigmarktes komplettieren zwei Imbißbuden und eine nur tagsüber praktizierende ambulante Hähnchen-Bräterei das zeittypische Bild einer Ost-Kleinstadt.
Im Clubtheater ist am Abend ein recht makabres Schauspiel zu sehen: Sechs Schauspielerinnen mühen sich mit einem männlichen Kollegen vor zwölf Zuschauern — zwei Journalisten, vier Kollegen, der Rest Verwandte oder Bekannte — Jean Anouilhs immer schon müdes, dazu noch jahrzehntelang eingestaubtes Stück „Das Orchester“ zu spielen. Unter Leitung des Hausregisseurs Herbert Tichy erfüllen alle eifrig ihre Rollen; weder in der Interpretation des Stücks noch in der Rollengestaltung wird auch nur augenblicksweise etwas riskiert. Es wird „vom Blatt“ gespielt — und krepierende Pointen oder ungenau gearbeitete kleine Komikerinnen-Nummern wirken natürlich doppelt traurig, wenn sie vor fast leerem Saal stattfinden.
Herbert Tichy, Jahrgang 1949, hat in seinen zwei Jahren als zweiter Hausregisseur neben dem Oberspielleiter die ganze Bandbreite des Theaterrepertoires inszeniert: „Schlacht“ und „Traktor“ von Heiner Müller, den „Raub der Sabinerinnen“, zwei Abende mit Einaktern von Curt Goetz, einen Monolog nach F.C. Delius' Roman „Die Birnen von Ribbeck“ und anderes, vier Inszenierungen pro Spielzeit. Die längste Probenzeit: sieben Wochen; die kürzeste: drei. „Der Raub der Sabinerinnen“ der Gebrüder Schönthan war nicht besser besucht als die Heiner- Müller-Stücke. „Hier sind eben viele Leute Theater nicht gewohnt“, sagt er seufzend, und bei Gastspielen im Westen, in Karlsruhe zum Beispiel, habe man feststellen können, wie das Publikum ganz anders auf die Vorstellung einsteige. „Hier ist es wichtig, daß man viele Leute überhaupt mit Kultur wieder in Berührung bringt.“ Am Zeitzer Theater gefällt Tichy, daß er bisher nur Stücke inszeniert hat, die er sich ausgesucht hat — und daß er auch für die nächste Spielzeit Stücke durchbringen konnte. Geplant sind unter anderem: „Der Profi“, ein Stück aus Ex-Jugoslawien, das von der jugoslawischen Ausgabe der Stasi handelt; eventuell Rolf Hochhuths „Wessis in Weimar“ („Man muß erst mal sehen, ob das Stück geht oder nicht!“); außerdem ein Gemeinschaftsprojekt mit einem sächsischen und einem thüringischen Theater, in Plauen und Altenburg: „Furcht und Hoffnung der BRD“ von Kroetz. Ob Herbert Tichy über die jetzt beginnende Spielzeit hinaus in Zeitz bleibt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob Zeitz Theaterstadt bleibt: „Im Prinzip gelten unsere Verträge alle nur bis '93, weil ja kein Mensch weiß, bleibt's offen oder nicht!“ Wenn es offen bleibt — und die Chancen stehen neuerdings nicht schlecht —, dann wird sich Tichys Arbeitsalltag ebensosehr verändern wie der von allen anderen Zeitzer Theaterleuten. Eben weil die geplanten Veränderungen drastisch sind, scheint das Zeitzer Theater eine Überlebenschance zu haben.
In früheren Jahrhunderten muß die Bergstadt Zeitz ein bürgerliches Schmuck- und Renommierstück gewesen sein. Wie überall in den Kleinstädten der Fünf Neuen Länder dominiert auch hier auf den ersten Blick die charakteristische Mischung aus aschgrauem DDR-Verputz, neuem Farbenfrohsinn der eingefallenen Handelsketten und dem Do-it-yourself-Design unzähliger Ost-Imbiß- Schuppen. Bei näherem Hinsehen zeigt Zeitz opulente (und teilweise renovierte) Wohnhäuser aus Fachwerk, die romanische St.-Michaelis- Kiche — im 15. Jahrhundert zur gotischen Hallenkirche umgebaut —, das ein Jahrhundert später entstandene fünfgiebelige Rathaus mit dem weithin sichtbaren Campanile — und das Schloß Moritzburg, in dem ein halbes Jahrhundert lang die Herzöge von Sachsen-Zeitz residierten, von 1656 bis 1718. Der Stolz der Zeitzer auf ihr Schloß ist nicht ganz leicht zu begreifen: Im heutigen Zustand ist es eine halbe Ruine. Im Hof liegen vergammelnde Baumaterialien herum, als plane man seit Jahren erfolglos die Instandsetzung. Im Inneren des Schlosses sehen wir, als einzige Besucher, eine historische Kinderwagenausstellung — eine bittere Pointe für Zeitz: Denn Kinderwagen waren bis zum Untergang der DDR einer der ökonomischen Lebensnerven der Stadt. Jetzt sind noch etwa 400 von 2.000 Beschäftigten übrig im Kinderwagenwerk Zekiwa; die Russen, früher Hauptabnehmer, haben kein Geld mehr für Kinderwagen. Von demnächst noch circa 250 Arbeitsplätzen wird im Werk geredet; noch ist nicht klar, ob es überhaupt eine Überlebenschance für Zekiwa gibt. Vielleicht bleibt eines Tages nur das ehemalige Hauptgebäude des Werks als Touristenblickfang stehen, ein schönes Stück Industriearchitektur der Jahrhundertwende.
Hunger auf Theater
Zeitz hat das südlichste von 17 staatlich subventionierten Theatern des Landes Sachsen-Anhalt. Im Dreiländereck von Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt sind die Theaterstädte ungefähr so dicht gesät wie im Rheinland: Leipzig und Halle im Norden von Zeitz; Altenburg im Osten; Gera und, etwas abgelegener, Weimar und Erfurt im Westen.
Das Theater der kleinen Kreisstadt Zeitz ist mit seinen 47 Jahren das jüngste der Region. Im August 1945 trafen sich einige Theaterleute, die in Krieg und Nachkriegsmonaten in die Region verschlagen worden waren, mit Zeitzer Theaterfreunden beim Kulturoffizier der Sowjetischen Militäradministration, einem gewissen Boris Dubinski. Der war von Beruf Germanist, hatte als Deutschlehrer gearbeitet, liebte die deutsche Klassik, war insbesondere Goethe-Verehrer. Zwei Monate nachdem die Theaterfreunde bei Dubinski vorgesprochen hatten, war das Theater eröffnet. Der Zeitzer Magistrat stellte ein ehemaliges Vereinslokal namens „Harmonie“ zur Verfügung, das im Krieg als Luftschutz-Gerätespeicher zweckentfremdet worden war. Der Hunger auf Theater war offenbar gewaltig in den ersten Nachkriegsjahren: In der sechsten Spielzeit kamen 34 Premieren heraus — für ein kleines Theater ein kaum vorstellbarer Kraftakt. Bis etwa 1960 scheint das Thater geblüht zu haben: Ein österreichischer Intendant nahm Nestroy und Grillparzer in den Spielplan, förderte gezielt Operettentheater und damit die Zuneigung des kleinstädtischen Publikums. Nach der politisch motivierten Kündigung dieses Intendanten (er fiel als Österreicher dem Abgrenzungswahn der SED zum Opfer) sackte das Zeitzer Theater ganz offenbar in die Bedeutungslosigkeit; in einem historischen Papier des Chefdramaturgen Karl-Heinz Möller heißt es dazu nur formelhaft-verschwommen: „Es gab mehrere Intendantenwechsel und schließlich eine problematische Phase der Stagnation.“
Auch heute steht die in den Nachkriegsjahren hinreichend beantwortete Frage, ob die Zeitzer Bürger ein Theater wollen, wieder auf der Tagesordnung; die Premieren sind gut gefüllt, einzelne Vorstellungen lassen sich noch gut verkaufen — das Gros des Spielplans aber ist nach einigen Vorstellungen mangels Publikumsinteresse erledigt. Und das, obwohl einige Vorstellungen in der Lokalausgabe der Mitteldeutschen Zeitung Aufsehen erregten: „Der kleine Horrorladen“, ein Publikumsrenner auch an anderen Häusern der Ex- DDR, hatte bei der Premiere mehr als eine halbe Stunde Applaus.
„Landläufig delegiert man den Zuschauerschwund immer ab auf die sozialen Probleme“, sagt Wolfgang Eysold, seit März 1991 Zeitzer Intendant. „Ich glaube, das trifft hier nur bedingt zu. In dieser Stadt sind bisher einfach maximal 1.000 theaterinteressierte Leute. Man muß mit den Leuten reden. Ein gewisser Nimbus muß für Theaterleute wiederhergestellt werden. Die Zeitzer müssen ihre Schauspieler auf der Straße erkennen; müssen neugierig auf die Neuengagierten warten.“
Wolfgang Eysold, Jahrgang 1948, ist der Motor des Zeitzer Theaterüberlebens, wenn es denn eines geben sollte. Der Mann hat ein Komikergesicht: Rundkopf, Robbenschnauzer, Witz und Tücke in den Augen. Über seine Arbeit, speziell über seine Kämpfe mit den politisch Verantwortlichen, spricht er so, als sei auch die Intendanz eine Rolle für ihn, eine genußreiche allerdings, eine Lieblingsfigur. Grinsend erzählt er von seinen Überlegungen, die Fassade des Theaters nicht allzu eilig erneuern zu lassen — damit niemand auf den Gedanken kommt, das stadteigene Haus für andere Zwecke zu beanspruchen: „Theater tot, Immobilie frisch renoviert!“ Eysold hat Spaß am Kämpfen, weil er routinierte Langeweile fürchtet; das Taktieren, das Ausklügeln des nächsten Winkelzugs gegen die örtlichen Geldgeber in der Politik kommt seinem Wesen entgegen.
Das Zeitzer Theater hat noch immer mit dem schlechten, aber wohlverdienten Image vergangener Zeiten zu kämpfen, jener „problematischen Phase der Stagnation“, über die man immerhin Andeutungen und Gerüchte zu hören bekommt: Der letzte DDR-Intendant Günther Weindrich hat unter den altgedienten Zeitzer Theaterleuten den Ruf eines unintelligenten Parteiknechts, Intriganten und Stasi-Spitzels. Für die wenigen erfreulichen Erinnerungen an seine Intendanz ist seine bescheidene Intelligenz verantwortlich, die es möglich machte, ihn zu übertölpeln. Kichernd erzählt zum Beispiel der Chefdramaturg des Hauses, Karl-Heinz Möller, wie es ihm in der Vor-Gorbatschow-Zeit gelang, anläßlich der rituellen „Tage der sowjetischen Dramatik“ ein äußerst brisantes Antifunktionärsstück eines russischen Autors in den Spielplan zu mogeln. Kein Wunder, daß Zeitz schon zu DDR-Zeiten zu den schließungsbedrohten Theatern gehörte: „Parchim, Anklam, Zeitz, Döbeln, Freiberg, Annaberg — das waren die Kaninchen, auf die immer geschossen wurde“, sagt Intendant Eysold. „Die Abwicklungsbestrebungen vor der Wende sind für meine Begriffe nahtlos rübergegangen ins Magdeburger Kultusministerium. Und die machen sich absolut nicht die Mühe, nachzugucken, was wirklich hier läuft und was hier mal entstehen kann. Die sagen eben: Nein, Zeitz ist eine Kuhbläke, und die muß weg!“ Seit Eysold das gesagt hat, sind etwas mehr als zwei Monate vergangen; und sein heftiges und einfallsreiches Trommeln fürs Zeitzer Theater hat offenbar auch bei der Landesregierung Wirkung gezeigt: In die Theaterferien entließ der Intendant sein Ensemble mit der Verlesung eines Briefs, in dem der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt seine Absicht kundtut, das Zeitzer Theater mit eigenem Ensemble zu erhalten. Und wenn Eysold sich seine heutigen Platzausnutzungen ansieht, kann er zwar nicht zufrieden sein, aber immerhin „froh, daß die Zuschauerentwicklung jetzt über dem realen Vorwende-Stand liegt“. Das heißt: wenn man gegen die heutigen Zahlen nur diejenigen Besucher aus DDR-Zeiten hält, die freiwillig und unorganisiert kamen — dann hat das Zeitzer Theater ein paar Zuschauer dazugewonnen. Aber das genügt nicht, um ein dauerhaftes Überleben des Hauses zu sichern.
Samstag vormittag, eine Woche vor der letzten Schauspielpremiere der Spielzeit. Jürgen Kautz, seit 1985 Oberspielleiter in Zeitz, probiert mit dem Ensemble das erste
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Theaterstück des ehemaligen Lehrers, Schriftstellers und Stadthistorikers Rudolf Drößler: „Die Apothekerstochter“. Ein mäßig geschriebenes, ereignisreiches Knobelbecher- und-Tränen-Stück über eine Episode aus der Zeit Friedrichs des Großen: Die Zeitzer Bürger wehren sich gegen die Zahlung von 30.000 Talern Kriegskontribution; der Preußenkönig schickt einen brutalen Statthalter, die Zeitzer leisten mit List anhaltenden Widerstand. Das Stück ist für eine Freilicht-Aufführung vorgesehen — was wir beobachten dürfen, ist die „Regenprobe“ im dunkel holzgetäfelten „Großen Saal“ des Rathauses. Die sprachlichen und dramaturgischen Schwächen des Stücks sind niemandem verborgen geblieben; keiner von den Schauspielerinnen und Schauspielern scheint die Produktion besonders aufregend zu finden. Trotzdem murrt niemand laut, alle machen mit, chargieren hier und da ein wenig, um das etwas staubige Stück so farbig wie möglich zu machen. Besonders Dieter Wahlbuhl, der den preußischen Statthalter spielt, schreit und rempelt, randaliert und stiefelt, daß es nur so dröhnt. Regisseur Kautz arbeitet diszpliniert, ruhig und gutgelaunt mit dem Ensemble. Nur manchmal scheint er sich insgeheim ein wenig zu langweilen; aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil Kautz mir am Vortag ausführlich aus seinem Leben erzählt hat, vom Studententheater in Halle/Saale und besonders von seiner Mitwirkung an einer legendären und folgenreichen DDR- Theater-Produktion: B.K. Tragelehns Inszenierung von Heiner Müllers „Umsiedlerin“ 1961 an der Hochschule für Ökonomie in Berlin- Karlshorst — die Produktion wurde mit 32 Parteiverfahren bestraft und sorgte für Bruchstellen in vielen DDR-Theaterbiographien, so auch in der von Jürgen Kautz. (Der Zeitzer Chefdramaturg Karl-Heinz Möller war bei der legendären Aufführung ebenfalls dabei; heute trägt man diese Mitwirkung ein bißchen wie ein verspätet erteiltes Ehrenzeichen.)
Später hören wir vom Intendanten, daß das Lokaldrama beim Publikum ungeheuren Anklang gefunden hat, wahrscheinlich in die nächste Spielzeit übernommen wird. Sollte das ein Überlebensrezept für die kleinen Theater im Osten sein, Heimatgeschichte auf der Bühne? Wer weiß, vielleicht macht Intendant Eysold mit dem Lokalhistoriker Drößler eine feste Einrichtung aus den Historienspielen. Stoff genug gibt's: Die Stadt Zeitz wurde 967 erstmals urkundlich erwähnt, feierte diesen Sommer ihren 1025. Geburtstag.
Mobil sein
Die etwa 50 Zuschauer fassende Freilichttribüne hinter dem Clubtheater ist fast vollständig besetzt an diesem Abend. Heute ist die letzte Vorstellung von Molières „Der Geizige“. Gespielt wird auf, vor und neben einem Lastwagenanhänger, auf etwa 2 mal 5 Meter Spielfäche, die mit rotem Samt und anderen Stoffen simpel, aber schön dekoriert ist. Sechs Scheinwerfer sind installiert, außerdem zur Unterstützung eine Reihe Glühbirnen hinter der Soffitte des Portals, das rechts und links von zwei putzigen Statuen begrenzt wird— eine unaufwendige, aber hübsch liebevolle Bühne. An den Seiten, zwischen Bühne und Kastanienbäumen, fangen doppelt mannshohe Vorhänge an Seilen den Blick. Die Inszenierung läßt außer der Bühne auch die sandige Fläche zwischen Lastwagenanhänger und Tribüne bespielen und nutzt bei passender Gelegenheit das gesamte Areal für Jagd- und Fluchtszenen. Martin Lieb, der Regisseur dieses Sommervergnügens, ist, wie die meisten vom Schauspielensemble, vor zwei Jahren nach Zeitz gekommen. Als Schauspieler ist er ein virtuoser Slapstick-Clown— wann immer man ihn als dauernd von Prügeln bedrohten Knecht agieren sieht, weiß man, wie seine Inszenierung hätte aussehen können. Nur: die anderen Zeitzer Schauspieler haben nur zum geringen Teil die gleiche Beweglichkeit wie Martin Lieb, die körperliche und sprachliche Genauigkeit, das mimische Talent zur Groteske. All das aber wäre nötig, um den Zehntelsekunden-Slapstick dieser Regie wirksam zur Aufführung bringen zu können. Der Unerfahrenheit des Regisseurs ist es wohl auch zuzuschreiben, daß sein Harpagon (Dieter Wahlbuhl) die Rolle durchpoltert, seiner Figur durch spielerischen Überdruck fast alle Entwicklungsmöglichkeiten nimmt. Dem Zeitzer Publikum sind solche Mäkeleien fremd: Es folgt begeistert der alten Geschichte und nimmt die auf hohem Niveau scheiternde Aufführung als freundliches Sommerabend-Vergnügen.
Der Lastwagenanhänger könnte auch für mobile Vorstellungen des Zeitzer Theaters genutzt werden. Gastspiele gibt es auch jetzt schon, in Weißenfels und Droyßig oder in Naumburg, wo seit Jahren nur noch ein Puppentheater existiert. Auch in und um Zeitz selbst wird gelegentlich getingelt; eine Schule im drei Kilometer vor Zeitz liegenden Droßdorf hat sich zum Beispiel „Was heißt hier Liebe“ kommen lassen. Die etwa 16jährigen Schülerinnen und Schüler nehmen den einfach und ungekünstelt gespielten Aufklärungsrenner in ihrer Turnhalle mit Staunen und Begeisterungsgetöse zur Kenntnis. Jugendliche kommen noch am ehesten ins Zeitzer Theater — wenn einmal ein Kontakt hergestellt worden ist, anläßlich eines solchen Gastspiels oder von der Schultheaterbeauftragten.
Multitalente gefragt
Seit 1990, seit Wolfang Eysold Intendant ist, kooperiert und koproduziert das Zeitzer Theater mit anderen Häusern: „Was heißt hier Liebe“ wurde von der Karlsruher Regisseurin Stefanie Lackner inszeniert; an deren Haus, dem freien „Sandkorn- Theater“, hat im Austausch der Zeitzer Herbert Tichy gearbeitet. Detmold ist Partnerstadt; in der nächsten Spielzeit wird eine Inszenierung des dortigen Intendanten Ulf Reiher in Zeitz gastieren. Am meisten Aufsehen erregte Zeitz wohl mit einer deutsch-luxemburgischen Koproduktion, für die der Hallenser Hans- Dietrich Genscher die Schirmherrschaft übernahm: Neil Simons „Sonny Boys“ wurde zusammen mit dem „ThéÛtre des Capucins“ auf die Bühne gebracht; es spielte, in Zeitz und Luxemburg, ein deutsch-luxemburgisch gemischtes Ensemble unter Leitung des Düsseldorfer Schauspielers Jean-Paul Raths.
Solche und ähnliche Unternehmungen sind zwar schöne Abenteuer fürs Ensemble und gut fürs Image — das Überleben des Theaters in der Region können sie kaum befördern. Um den Politikern von Kreistag und Stadtverordnetenversammlung (und den potentiellen Theatergängern von Zeitz und Umgebung) die Notwendigkeit des Hauses zu dokumentieren, hat Wolfgang Eysold sich das „Kulturnetzmodell Reformtheater Zeitz“ einfallen lassen: Eysold sieht Zeitz — ebenso wie andere kleine Osttheater — nur als extremen Spezialfall der gesamtdeutschen Stadttheaterkrise: „Ein großer, unbeweglicher und kostenaufwendiger Apparat bewegt sich auf einer starren und schmalen Angebotsschiene des zwar reichhaltigen und guten, aber eben ausschließlichen Theaterangebots und erreicht auf diesem Wege verhältnismäßig wenige Abnehmer“, schreibt Eysold in einem Arbeitspapier. Eysold will das Theater zum Netzwerk für Breitenkultur machen, will es für vielfältige Kulturangebote in Stadt und Kreis öffnen. Das Stadttheater soll also, mit „abgespecktem“ Personal (Spielzeit 91/92: 167 Beschäftigte, jetzt noch 116), Amateurspielgruppen betreuen, Schul- und Seniorentheater anbieten, „Lehrerfortbildung als Interaktionstraining“ betreuen, Chorgesang, Bewegungstraining, Aerobic, eine „soziokulturelle Hilfsgruppe für behinderte Mitbürger“, eine Aktionsgruppe Tischlerei oder eine für „Licht und Ton“ — kurz: Jeder, der oder die im Theater angestellt ist, soll seine erlernten Fähigkeiten mehrfach verkaufen. Auf der Bühne und in pädagogischen Zusammenhängen, im Ödland der Zeitzer Breitenkultur, wo nicht einmal ein funktionierendes Kino zu finden ist. Ein Beispiel, das Eysold gern anführt: In Zeitz gibt es keine Tanzschule; am Theater ist das Know-how — also bringt man Nachfrage und Angebot zusammen. Die „Reformkonzeption“, die schon seit letzter Spielzeit halboffiziell getestet wird, scheint Anklang zu finden. Kein Wunder, denn wenn man Eysolds ständigen Gesprächspartner und eisernen Unterstützer, den schneidigen jungen Landrat Nikolaus Jung (CDU), nach dem Kulturangebot des Landkreises Zeitz fragt, sagt er — in einem Tonfall, als wollte er eine Jubiläumsfeier eröffnen: „Natürlich in erster Linie unser Theater und alles das, was mit diesem Theater zusammenhängt.“ Und mehr fällt ihm nur mühsam ein, er schwärmt vom Dom „Peter und Paul“ („älter als der Naumbuger Dom, nur nicht so bekannt“), erhitzt sich darüber, daß die „Straße der Romantik“ unbekannterweise in Zeitz beginnt — und spricht schließlich herzerwärmend vom „Kontakt mit den Menschen“. Im Klartext: Kultur würde sich in dieser Gegend in Architekturtourismus, Landschaftserlebnis und Kneipenschwatz erschöpfen, wenn das Theater nicht da wäre. Und Intendant Eysold ist sich dieser Funktion seines Hauses bewußt, weist nicht ohne Stolz darauf hin, daß es aus Bonn schon Signale gegeben habe, man erwäge eine spätere Bundesförderung für das Reformmodell. „Es entsteht ja immer der Eindruck, die Umstrukturierungsmaßnahmen an den Theatern der neuen Länder würden nur aus Finanzgründen gemacht. Ich muß sagen, dieses übliche Stadttheatermodell würde ich nicht mehr machen wollen, auch wenn mir jemand 15 Millionen Mark jährlich schenken würde. Weil es für die Entwicklung dieses Territoriums nichts bringt. Ich glaube, wir wären zu diesen Umstrukturierungsgedanken in jedem Falle gekommen, die Geldschere befördert diesen Prozeß nur.“ So überzeugend Eysolds Reformidee zunächst klingt: Erst nach zwei, drei Spielzeiten wird sich zeigen, ob es wirklich möglch ist, mit weniger Personal mehr zu arbeiten. Es werden mit Sicherheit Schauspieler(innen) mit Nebentalenten eingestellt für die Zeitzer Zukunft; pädagogische Begabung ist gefragt, Organisationstalent, Engagement auch außerhalb des Elfenbeinturms Theater. In der traditionellen Domäne des Theaters, also auf der Bühne, wird die passable Zeitzer Qualität nur zu halten sein, wenn mit anderen Häusern zusammengearbeitet wird; denn aus eigener Kraft kann, mit mehr als einem Viertel weniger Personal, nicht mehr soviel Theater produziert werden. Auch über solche Kooperationen gibt es schon Gespräche; bei Landrat Jung war vor uns gerade der Landrat des Kreises Eisleben zu Gast. Im September sollte ein Kooperations- und Finanzierungsvertrag paraphiert und den zuständigen Parlamenten vorgelegt werden. Hat Eysolds Reformmodell Erfolg — und es sieht nach der ersten Testspielzeit ganz danach aus —, dann könnten womöglich auch die Zeitzer Bürger allmählich anfangen, ihr Theater unentbehrlich zu finden.
Wolfgang Eysold macht sich jedenfalls keine Illusionen über die Zukunft des Hauses: „Hier kann's mir gar nicht langweilig werden! Zu kämpfen gibt's hier immer!“
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