Temperamentsreserven am antizyklischen Ort

■ Ein Tag im Leben des Hamburger Literaturhauses / Eine Gesellschaft auf dem Weg ins 18. Jahrhundert / Ein Geschäftsführer ohne Statussymbole als idealer Zuhörer / Ein Kontakthof, dem noch...

/ Eine Gesellschaft auf dem Weg ins 18. Jahrhundert / Ein Geschäftsführer ohne Statussymbole als idealer Zuhörer / Ein Kontakthof, dem noch die »nomadenhafte Häuslichkeit« fehlt, der sich aber für Hochzeiten gnadenlos eignet

Zehn Uhr morgens: Die ersten Besucher stemmen sich gegen die schwere alte Flügeltür des Café Schwanenwik. Das Café wird unter der Woche abends für literarische Veranstaltungen und geschlossene Gesellschaften genutzt. „Bitte erkundigen Sie sich vor Ihrem Besuch telefonisch nach diesen Terminen, um Enttäuschungen vorzubeugen“, steht auf einem Zettel neben der Tür zu lesen. Aber morgens um zehn ist die Welt noch in Ordnung, die Flügeltür wird gerade erst aufgeklappt.

Im noch träge im morgendlichen Sonnenlicht daliegenden Saal schiebt der studierte Betriebswirtschaftler Günther Zapp, der mit seiner Frau Heike, studierte Musikwissenschaftlerin, das Café Schwanenwik betreibt, eine bunte Broschüre über den Tisch. Vorn ist, neben dem Schriftzug „Zu vermieten“, die Fassade des Literaturhauses abgebildet, im Herzstück des aufgeschlagenen Faltblattes erstrahlt das Abbild des Saales, Prunkstück des ganzen Hauses, mit seinen Marmorsäulen, Stukkaturen, Malereien. Was Wunder, daß hier fast jedes Wochenende Hochzeit gefeiert wird, Kostenpunkt: 2200 Mark Miete für den „Festsaal“, wie der Broschüre zu entnehmen ist.

„Der Erfolg des Hauses beruht zu Dreivierteln auf der Architektur dieses Saales“, erklärt Günther Zapp, „ein Erfolg, der nicht abzusehen war“. Immerhin waren die beiden mit ihrer Konzeption bisher so erfolgreich, daß sie sämtliche Mitbewerber für die bevorstehende Neuverpachtung des Alsterpavillons abhängen konnten.

Die Pachtmodalitäten am Schwanenwik sind seit drei Jahren per Vertrag geregelt: 75 Abende im Jahr ist das Café für Veranstaltungen des Literaturhauses gebucht, die gesamten übrigen Mieteinnahmen sowie zehn Prozent des gesamten Umsatzes der Gastronomie fließen in die Kasse des Literaturhauses. Das macht „eine sechsstellige Summe im Jahr“, verrät Günther Zapp. Einziger, kräftiger Wermutstropfen: „Die Doppelnutzung als Café und Veranstaltungshaus gelingt eigentlich nicht“, sagen die Zapps.

Der Cafébetrieb sei wegen der abendlichen Veranstaltungen für das „normale Publikum nicht berechenbar“. Deshalb der Zettel an der Tür. Andererseits habe man den Eindruck, daß das abendliche „Lesepublikum“ die Gastronomie als 'Theaterbewirtung‘ auffasse, weshalb auch nach den Lesungen immer prompte Aufbruchstimmung herrsche. Die Zapps bevorzugen ihr „normales“ Publikum: „Die Rechtsanwälte und Steuerberater aus der Umgebung“, die mittags zum Essen kommen, die „Studenten aus der Armgartstraße“, die „Künstler“ wie die „Sonntagsspaziergänger“. Aber das Preisniveau? „Billig ist es nicht“, Günther Zapp lacht: „Aber wir tun's ja nur für das Literaturhaus.“

Neben dem Café residiert Buchhändler Stephan Samtleben. Zwischen Bücherregalen und -tischen und einem mittelwinzigen Erker mit Alsterblick. Aufgehoben in seinem Mikrokosmos bewegt sich Samtleben mit großer Freundlichkeit und Bedacht durch selbigen. Wahrscheinlich ein Mensch mit ungeahnten Temperamentsreserven. „Ich denke, wir befinden uns auf dem Weg ins 18. Jahrhundert. In eine Gesellschaft von lesenden Menschen inmitten von Analphabeten“, sagt er ohne erkennbares Bedauern. Seine Buchhandlung sei ein „völlig antizyklischer Ort“, kommt es aus ihm ohne eine Spur von Stolz, er widme sich hier ganz und gar der „konjunkturunabhängigen Pflege von komplizierten Titeln“ und dem „interessanten Austausch mit Autoren und Kunden“.

Eine auffällige Erscheinung kreuzt seit geraumer Zeit das Blickfeld: Mittelgroß und drahtig, Elvis-Frisur und mit gelbem Pullunder über rotem Hemd. Ja, bestätigt Stephan Samtleben, das ist der Hausmeister. „Hey Werner, komm mal her, die findet, daß du die schärfste Marke hier im Haus bist.“ Er soll doch auch mal ein paar Fragen beantworten. Also einen Sechzehn-Stunden-Tag hat er hier meistens schon, gibt er zu Protokoll. Um halb acht ist er hier, bringt den Müll raus, läßt die Lieferanten rein, macht Besorgungen und baut dann später bei Bedarf Podien und Anlage für die Veranstaltungen im großen Saal oder oben, im kleinen Saal auf.

Es gibt auch viel Ärger: „Manchmal sind die Toiletten verstopft, oder die Leute bauen die Türgriffe ab, grober Unfug“, räsoniert er. Na ja, und wenn dann auch noch kurz vor der Veranstaltung immer noch nicht klar ist, wie die Tische stehen sollen... „Also, wenn es hier wenigstens einen Fahrstuhl gäbe! Fünfzig Mal am Tag die Treppen rauf und runter...“ Immerhin: „Der Bauch ist weg“.

Zeit für das Mittagessen mit Ursula Keller, der Programmchefin des Hauses. Verabredet hat man sich im Café Schwanenwik, wo sonst. Der Saal ist vollbesetzt, klassische Musik vom Band mischt sich mit Gabelklirren. Eine fast schon „interdisziplinäre“ Geräuschkulisse, passend zum Gesprächsthema. Ursula Keller setzt mit ihrem Konzept auf kleine und große Grenzgänge zwischen den verschiedenen Künsten. Sie ist angetreten, um „eine große Vielfalt literarischer Veranstaltungsformen für ein möglichst vielfältiges Publikum zusammenzustellen“. Die anfängliche Angst, das Literaturhaus könne wie ein „Wasserkopf“ alle literarischen Aktivitäten aufsaugen, hat sich als völlig unbegründet herausgestellt. Das Gegenteil ist der Fall gewesen, und das Verhältnis zu den Hamburger Autoren hat sich inzwischen auch “völlig entspannt“. Ursula Keller wünscht sich, daß das Café Schwanenwik ein Kaffeehaus werde, ja eine „Lebensform“, wie sie es in einem Vortrag über das Hamburger Literaturhaus schriftlich fixierte: „Lesehalle, Arbeitszimmer und Kontakthof, literarischer Markt und Meinungsbörse, Boulevard und Interieur zugleich“.

Und genau an der „nomadenhaften Häuslichkeit“, so fährt sie fort, „mangelt es dem Hamburger Literaturhaus: zuviel hanseatische Steifheit und kühle Eleganz, zuwenig gemütliches Provisorium, um die geselligen Einzelgänger Hamburgs zu notorischen Kaffeehaushockern zu machen.“ Wenn man ihr zuhört, ihr, die über das Kaffeehaus promoviert hat, dann gewinnt man den Eindruck, als schmerze es sie regelrecht, daß sie dieses hier vermissen muß. Und es bleibt ein Rätsel, warum ein so beherrschter, ganz gezielt Esprit sprühender Charakter wie die Ursula Keller ihr Herz ausgerechnet an solches hängt, fast als ob sich ihr wohltemperierter Ehrgeiz gegen sie selbst zu richten drohe.

Bei trefflich bereiteten Tortiglioni mit Broccoli und Sahnesauce und Safran-Risotto mit Garnelen hängt man so seinen Gedanken nach, plaudert über das Programm des Literaturhauses.

Extra einen Kaffee kocht dann Heidemarie Ott, Geschäftsführerin des Hamburger Literaturzentrums, das im zweiten Stock des Literaturhauses sein Büro hat, und geradezu eine Oase der Ruhe und Gelassenheit darstellt. Die Stimmung sei „absolut optimal, der Kontakt im Hause fair und freundschaftlich“, antwortet Heidemarie Ott auf die Frage nach der allgemeinen Befindlichkeit. „Aber es ist ja auch so“,

1fährt sie nach einer kurzen Pause fort, „daß dieses Haus an sich manche Konflikte entschärft. Es ist sehr komfortabel, sehr schön, irgenwie wirklich zu 'barock'“. Wohl auch deshalb sei hier oft ein „überwiegend abgesättigtes Lesepublikum anzutreffen, kaum junges, studentisches Publikum“, eher eins, „das das Neue liebt, und die Veranstaltungsorte genauso wechselt wie die Restaurants.“

Sie selbst sehe das Literaturhaus als „Anbieter und Verwerter von Literatur“, nicht mehr und nichtweniger. Ein Ort der Begegnung für die Hamburger Autoren, treffender fände sie persönlich die Formulierung „in Hamburg ansässige Autoren“, sei das Literaturhaus nicht. „Es ist ja auch viel zu unruhig hier, zu viel Betrieb.“

Nach solchen doch irgenwie erfrischenden Worten, gelangt man beschwingt in den obersten Stock des Literaturhauses, und wartet höflich bis Uwe Lucks, Geschäftsführer des Literaturhauses, sein Telefongespräch beendet hat. Sein Büro ist der engste Raum im Dachgeschoß, mit Schrägen und einem kleinen Gaubenfenster. Später wird er auf die alberne Frage, warum er sich denn als Geschäftsführer ausgerechnet dieses Zimmer ausgesucht habe, antworten, daß man doch in einem „Betrieb, wo es um die Literatur geht, ihm doch nicht allen Ernstes mit Statussymbolen“ kommen solle.

1Doch Uwe Lucks, ein Beau jenseits der Fünfzig, der, wie er unaufgefordert verrät, Sternzeichen Skorpion ist, redet auch gerne übers Geschäftliche, etwa über den Fortgang der Stiftung „Hamburger Literaturfonds“, die Sponsoren für das Literaturhaus gewinnen soll. „Wir fordern Geld und bieten Askese“, umreißt er kernig die Schwierigkeiten, Sponsoren für die Literatur zu finden. Das liege halt im „High-Donor-Bereich“. Donnerwetter.

„Ich finde, das Haus lebt. Ich wüßte im Moment nicht, was besser sein könnte.“ Hat auch er Sehnsucht nach einem Kaffeehaus im Erdgeschoß? „Kann man einen Ort dazu bestimmen?“ kommt die

Gegenfrage, und die Antwort hin-

1terher: „Der Raum ist nicht intim genug, das Publikum fast amorph, nicht definierbar - und deswegen gut.“

Hat Uwe Lucks selbst literarische Ambitionen? „Ich bin“, sagt Uwe Lucks, „der ideale Zuhörer. Ich bin der Mensch, für den diese Veranstaltungen gemacht werden. Die sind für mich eine Quelle höchsten Genusses.“

Eine andere Quelle beginnt im Erdgeschoß bereits zu sprudeln: Gegen neunzehn Uhr sammeln sich die ersten Gäste für die Podiumsdiskussion zum Thema Literatur der achtziger Jahre — ein Baustein in der Vielfalt der literarischen Angebotsformen.

Mechthild Bausch