JEMAND HAT DEN SPUTNIK VERGESSEN

■ Ein Spaziergang durch die Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaften der UdSSR

Ein Spaziergang durch die Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaften der UdSSR

VONDONATARIEDEL

Hoch oben auf dem Eingangsportal stehen noch immer Arbeiter und Kolchosbäuerin. Die Bronzestatue blickt auf die Besucher der „Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaften der UdSSR“, russisch abgekürzt WDNCh. Auf mehreren Quadratkilometern am nördlichen Stadtrand Moskaus hatte Stalin die Ausstellung Ende der 30er Jahre errichten lassen, zur Feier sozialistischer Wirtschaftskraft. Zwischen sozialistischer Mammutarchitektur wurde dem Sowjetvolk jede neue Landwirtschaftsmaschine, jeder neue Wolga oder Moskwitsch vorgeführt.

Die Sowjetunion ist abgeschafft, nicht aber die Dauerausstellung ihrer wirtschaftlichen Errungenschaften. Nur der zugehörige Park heißt nicht mehr Felix-Dzierzynski-Erholungspark: Der berüchtigte Gründer des sowjetrussischen Geheimdienstes ist die einzige Symbolfigur des Bolschewismus, deren Name und Denkmäler flächendeckend aus dem Moskauer Stadtbild entfernt wurden. Auch die nach Dzierzynski benannte Metro-Station im Stadtzentrum wurde wieder in „Ljubjanka“ umbenannt — dem Gebäude, in dem die Zentrale des KGB untergebracht ist.

Die „Allunionsausstellung“, wie deutsche Reiseführer das Abkürzungsmonster sprachlich zu umgehen versuchen, heißt in Moskau so sperrig wie immer Wee-Dee-eNnn- Cha. Die Statuen vom Arbeiter und der Kolchosbäuerin, geschmückt wahlweise mit Ährengarben und Hammer und Sichel, fehlen auf keinem der monumentalen Triumphbögen im klassizierenden Stalin-Barock.

Dem neuen Kapitalismus zum Trotz ist die WDNCh eines der beliebtesten Sonntagsausflugsziele der Moskowiter geblieben. Ihr Haupteingang, immerhin, wurde demokratisiert. Jede BürgerIn darf jetzt durch die wuchtigen 50 Meter hohen Torbögen schreiten. Früher war diese Ehre den Herrschenden vorbehalten, das Volk mußte durch den vollautomatischen Seiteneingang.

Nach wie vor ist der Brunnen der Völkerfreundschaft das Ziel der Ausflügler, ein Monument des Kitsches: 15 goldene Frauengestalten, Ährengarben in Händen, scharen sich im Kreis, dem Auseinanderdriften und Gegeneinanderabgrenzen ihrer Republiken zum Trotz. Moskowiter und Ukrainer, Letten und Usbeken lassen sich familienweise vor den Jungfrauengestalten fotografieren. Im Jahr eins nach dem Ende der Sowjetunion ist zwar die Völkerfreundschaft passé, der Brunnen jedoch nicht. Neue Kleinunternehmer mit Polaroid-Kameras nutzen die Nachfrage. Bei Verwendung eines Agfa-Films verdoppelt sich der Preis gegenüber dem des einheimischen Materials.

Hinter dem Brunnen dann haben Stalin und seine Nachfolger Ernst gemacht mit der volkswirtschaftlichen Leistungsschau. Unvermittelt und irgendwie übriggeblieben steht dort eine Aeroflot-Iljuschin, zu besichtigen für die Träume von Reisefreiheit und vom Fliegen. An ihrem Heck prangt noch immer das CCCP. Daneben verschwindet fast ein Sputnik- Raketchen (für das sich niemand so recht interessiert). Ein wenig blättert der Lack. Genauso verloren gemahnen ein orangefarbener Riesenbagger und ein Spezialanhänger (der so speziell ist, daß niemand seinen Zweck errät) an jene Zeit, da hier jede neue Maschine der Arbeiterklasse vorgestellt wurde. Die eine oder andere hat man, so scheint's, einfach vergessen wegzuräumen, daneben aber schon eine Börse eröffnet.

Die neue Errungenschaft des russischen Kapitalismus, die Metall- und Warenbörse, ist sonntags geschlossen. Auf ihren Stufen verramschen Kleinhändler gefälschte Levis-Jeans und Billigblusen. Nebenan, im Pavillon der Pelz- und Rauchwarenbranche, wundert sich derweil die Verkäuferin über jede Westtouristin, die keinen Pelzmantel anprobieren möchte. „Ja gefällt Ihnen denn unsere Ware nicht?“ fragt sie halb vorwurfsvoll und weigert sich zu glauben, daß sich auch in Deutschland nicht jede Frau im Vorbeigehen einen Pelz für mehrere tausend Dollar leisten kann — ganz abgesehen davon, daß nicht unbedingt jede einen Pelz tragen möchte.

Die Pavillons der Landwirtschaft sind demgegenüber schlicht, keine Kolchosbäuerin, keine Ährengarben schmücken das Gebäude _ dafür protzt ein überdimensionierter Stier auf dem Dach der „Fleischindustrie“, dem ein Metzger im Torerogewand den tödlichen Speer in den Nacken setzt — Heldentum am Arbeitsplatz?

Im Inneren des Pavillons „Viehwirtschaft“ sehen Moskaus Großstadtkinder Kühe — auf Großdias zwar, aber dennoch, niemand weiß woher, riecht's streng nach Kuhstall. Auch die „Fischzuchtanlagen“ sind noch da — bis auf das Fachpersonal, das einstmals den Frischwasserzufluß regelte. So taugen die brackigen Seen, trotz landschaftlicher Einbettung, nicht einmal zum idyllischen Picknickplatz.

Die Schaschlik- und Eisverkäuferinnen halten dementsprechend großen Sicherheitsabstand zur naturnahen Abteilung der Fisch-, Forst- und Jagdwirtschaft ein. Ihre Stände sowie allerlei Buden und Tretauto fahrende Kinder verwandeln Stalins Prunkausstellung ohnehin in einen bunten Jahrmarkt — Sommervergnügen zwischen den sinnentleerten Symbolen des untergegangenen Sowjetreichs.

Hätte man doch die Errungenschaften der Volkswirtschaft diskret eingemottet und das Ausstellungsgelände sich selbst überlassen! Es hätte sich ganz von selbst zum Vergnügungspark gewandelt. Doch Rußlands Regierung hat Großes vor auf dem riesigen Areal. Zwischen dem bröselnden Putz weißer Stalin-Pavillons und grauem Breschnew-Beton will Boris Jelzin Weltkonzerne ansiedeln und „Moskaus Messegelände“ schaffen, wie Reklametafeln überall stolz verkünden.

Weit hinten auf dem Gelände haben sich bereits Hewlett Packard, Suzuki und Ford gemeinsam einen Pavillon gesichert, irgendwo residiert Mercedes. Sie alle halten jedoch Abstand zum Hauptgelände hinter dem Völkerfreundschaftsbrunnen.

Denn so richtig weiß die Vorhut des westlichen Investitionskapitals mit dem neuen Standort nichts anzufangen. „Was sollen wir nur in diesen Pavillons?“ stöhnt der eine oder andere Repräsentant, dessen Firma auf der WDNCh Räume zugewiesen bekam, hinter vorgehaltener Hand. In die runden, oft fensterlosen Kuppelbauten Büros einzubauen, empfinden die meisten Architekten als Überforderung. Am liebsten würden sie Stalins Pomp einfach einreißen — und völlig neue Geschäftsgebäude bauen.