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ESSAYErzwungene Einfarbigkeit

■ Ein Blick aus der Londoner Peripherie auf die Maastrichter Verträge

Das Aufatmen der Eurokraten über das französische Referendumsergebnis dürfte nur von kurzer Dauer sein. Die Maastrichter Zitterpartie ist noch längst nicht überstanden — vor allem über Großbritannien brauen sich dunkle Wolken zusammen. Die Tory-Hinterbänkler zwingen ihren Premierminister John Major zu einem Balanceakt: Um eine Revolte der Euro-Gegner in der eigenen Partei zu verhindern, schlägt der Pro-Europäer Major immer lautere anti-europäische Töne an. Zwar soll Großbritannien weiterhin eine „führende Rolle“ in Europa spielen, die Maastrichter Verträge sollen jedoch nur ratifiziert werden, wenn die „Brüsseler Einmischung in häusliche Angelegenheiten“ heruntergeschraubt werde. Der Schlingerkurs zahlt sich jedoch nicht aus. Seit Mai dieses Jahres hat sich die Zahl der Maastricht- Gegner unter den Tory-Abgeordneten verdoppelt.

Doch die Wirtschaftspolitik — und nicht nur die britische — ist zu einer völligen Unterwerfung unter die willkürlichen Gesetze des Europäischen Währungssystems (EWS) verkommen. Damit hat man sich den Finanzmärkten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und die haben in der vergangenen Woche auf ihre Art „Nein“ zu Maastricht gesagt. Dieses Votum hat zweifellos mehr Gewicht als ein Referendum: WählerInnen kann man nachsitzen lassen, bis sie schließlich das gewünschte Ergebnis liefern, doch das Chaos auf den Finanzmärkten hat den Hoffnungen auf eine Realisierung der Europäischen Währungsunion einen schweren Schlag versetzt. Major hat sich erstmal eine Galgenfrist für die Ratifizierung der Maastrichter Verträge eingeräumt. Vor Ende nächsten Jahres ist damit kaum zu rechnen.

Wie in solchen Fällen üblich, machen sich die Politiker sogleich auf die Suche nach einem Sündenbock. Da sind zunächst einmal die Spekulanten, die mit den nationalen Heiligtümern — den Währungen — ihr böses Spiel treiben. Nicht viel besser als die Spekulanten steht die Bundesbank da. Die Mehrheit der Briten ist davon überzeugt, daß sie die Kosten für die deutsche Vereinigung tragen muß, weil sich die Bundesbank weigert, die Zinsen zu senken — und dadurch europaweit für hohe Zinsen sorgt. Die Boulevardpresse greift in die unterste Schublade. Der Daily Mirror freut sich, daß Prinzessin Diana ihren Miet-Mercedes zurückgegeben hat, weil „uns die Deutschen in letzter Zeit auch keine Gefallen tun“. Jon Craig, Europa-Korrespondent des Daily Express, wähnt die Urheber für das Währungschaos in der Geschichte: „Die Schurken hinter dem Überfall auf die Finanzmärkte sind die Erben von Hitlers Bankiers“, schrieb er am Mittwoch.

Der Independent hofft dagegen auf den weiteren Niedergang des französischen Francs. „Die Erniedrigung wäre für die Franzosen zehnmal schlimmer als für Großbritannien, sollte der Franc den Weg des Sterling gehen“, frohlockte die Zeitung. Eine Aufwertung der Mark gegenüber dem Franc würde nämlich eine Senkung der deutschen Zinsrate ermöglichen. Dadurch könnten auch in Großbritannien die Zinsen weiter gesenkt werden, selbst wenn der Sterling nicht mehr dem Wechselkursmechanismus angehört. „Frankreichs Not ist Großbritanniens Gelegenheit.“ Ist das der vielbeschworene europäische Gemeinschaftsgeist?

Worum geht es eigentlich bei diesem vereinigten Europa? Viele der versprochenen Vorteile für die „normale“ Bevölkerung sind bereits im Vorfeld ausgehöhlt worden: Großbritannien hat sich aus der Sozialcharta ausgeklinkt. Darüber hinaus hat die Londoner Regierung erklärt, daß die Abschaffung der Grenzkontrollen nicht in Frage komme. Allerdings ist ein Urlaub ohne Reisepaß für die Armen und Arbeitslosen an der europäischen Peripherie ohnehin kein brennendes Thema. Beispiel Irland: Ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung besitzt überhaupt keinen Paß, weil sie sich Auslandsreisen nicht leisten kann. Das Argument, Irland verdanke der EG Arbeitsplätze, ist ein Witz angesichts der Tatsache, daß sich die Arbeitslosigkeit seit dem EG-Beitritt 1973 auf 300.000 vervierfacht hat — trotz andauernder Massenemigration.

Ebensowenig werden die Iren in den Genuß anderer Vorteile der Maastrichter Verträge kommen. Banken und Versicherungen haben ihre überhöhten Preise bereits fast bis zur Jahrhundertwende vor europäischer Konkurrenz schützen lassen. Und wer ein Kraftfahrzeug — neu oder gebraucht — im Ausland kauft, muß in Irland 25 Prozent Einfuhrzoll und 25 Prozent Mehrwertsteuer bezahlen — nicht etwa des Kaufpreises, sondern des Wertes, den der Wagen in Irland hätte. Laut Maastrichter Verträge sind diese Zölle unzulässig, und die irische Regierung hat bereits zugesagt, sie abzuschaffen. Statt dessen gibt es eine „Anmeldegebühr“ in Höhe von 50 Prozent. Wer der Meinung ist, daß Autos gar nicht teuer genug sein können, übertrage das Beispiel auf andere Bereiche. Was bleibt also übrig außer dem Europa der Technokraten?

was heißt Identität?

Zurück zu Großbritannien: die Maastrichter Verträge haben dort eine seltsame Union zwischen Rechts und Links herbeigeführt. Denis Skinner vom linken Labour-Flügel verglich Großbritanniens Rückkehr in das Wechselkurssystem mit einem „Hund, der zu seinem Ausgekotzten zurückkehrt“. Die ehemalige Premierministerin Margaret Thatcher behauptete, die Idee fester Wechselkurse entspringe den Hirnen der Politiker, die Symbole für ihre Männlichkeit benötigten. Der rechte Tory-Flügel fürchtet um die britische Identität.

Der dänische Journalist Claus Clausen weist zu Recht darauf hin, daß unter dem Mäntelchen des Strebens nach nationaler Identität auch heute noch Unrecht und Unmenschlichkeit gedeihen, oft gepaart mit Unterdrückung von Andersdenkenden. Die vor 200 Jahren geborene Idee der Nation und des Nationalstaats ist keineswegs ein verteidungswürdiges Erbe — das haben Europa und die Welt hinlänglich zu spüren bekommen. Was ist überhaupt ein Nationalstaat? Weit verbreiteter Ansicht zufolge soll er sprachlich und ethnisch homogen sein. Doch außer Dänemark erfüllt kein Land Europas dieses Kriterium. Realität ist, daß praktisch alle Nationen Europas extrem heterogen sind. Die Argumentation, die nationale Identität“ müsse gegen den diffusen, zersetzenden Einfluß Europas verteidigt werden, ist wenig überzeugend. Spricht also alles für die Maastrichter Verträge? Keineswegs.

Zwar ist die europäische Integration nicht zu verhindern, aber die Frage, wie sie zustandekommen soll, ist längst nicht geklärt. Läßt man die PolitikerInnen walten, entsteht ein Europa, das auf Ausgrenzung basiert. Es müßte eigentlich zu denken geben, daß zwölf europäische Länder mit — mehr oder weniger — langer demokratischer Tradition eine Institution geschaffen haben, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegt. Diejenigen, die die Macht haben, sind nicht gewählt worden, und diejenigen, die gewählt worden sind, haben keine Macht. Die Kommission ist dem Parlament nicht rechenschaftspflichtig, sie kann weder abgelöst werden, noch ist das Budget kontrollierbar. Für Europas Politiker ein Traumkonstrukt: Endlich eine Institution, aus der man nicht abgewählt werden kann und in der die Öffentlichkeit nichts zu sagen hat. Die europäische Integration ist eine Notwendigkeit — eine Organisation aber, die von Bürokraten, Lobbyisten und der Industrie regiert wird, jedoch keinesfalls. Die EG braucht viel mehr fremde Einflüsse. Das Problem ist ja nicht die kulturelle Vielfalt in Europa, sondern die erzwungene Einheit, um uns vor dieser Vielfalt zu schützen. Genau dieser Fächer der Sprachen, Ideen, Traditionen und Gedanken ist jedoch die Qualität, die Europa ausmacht.

Die nivellierende Brüsseler Politik läuft dem jedoch zuwider. Die Invasion des Alltags durch Verordnungen und Richtlinien, um den Einheitsbrei zu forcieren — sei es durch das Verbot eines französischen Weichkäses oder britischer Kartoffelchips — wird dazu führen, daß immer mehr Menschen sich gegen die europäische Integration wehren und in populistische Parteien abdriften. Das ist der Nährboden für Xenophobie, Nationalismus und Intoleranz. Ralf Sotscheck

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