Berlin und seine Bezirke

Bilderbuch über den Artenreichtum im kleinen, aber auch Künstler- und Kneipenroman: Thomas Kapielskis »Aqua botulus«  ■ Von Thomas Groß

Im ‘Leinestübchen‚ in der Leinestraße in Neukölln will der damals noch jüngere Kapielski sein stark von Diogenes beeinflußtes kunst- und lebensphilosophisches Credo formuliert haben: »Mir ist es immer ein unaussprechliches Vergnügen, mich im möglichst kleinsten körperlichen Raume im Geiste im Universum oder im Pluriversum herumzutummeln (...). Die Größe der Erdkugel wird sowieso überschätzt, sie schrumpft von sich aus auf einen zu.«

Sprach's und studierte den Artenreichtum im kleinen. Wann immer ihn in relativ faßbaren Mikrowelten, etwa in Kneipen, Vorgärten oder öffentlichen Verkehrsmitteln, jählings Epiphanien heimsuchten, wenn, nur zum Beispiel, ein Aschenbecher zu sprechen begann, ein Erker abartig aus einer Hauswand rausragte oder irgendein anderes Detail, gelegentlich sicher auch unter Alkoholeinfluß, plötzlich von den Augenrändern her ins Zentrum der Aufmerksamkeit hereinwucherte, ganz ungefragt und prachtvoll wirr — Kapielski hat's geknipst.

Eine stattliche Sammlung fotografischer Abbilder ist seither zusammengekommen, ein folkloristisches Kompendium von Mantakühlerhauben und Blumenzierkübeln, quasi »Berlin und seine Bezirke«, bevorzugt Neukölln, aber vom Mikrokosmischen, unterschwellig Libidinösen her angegangen und aufgerollt. Man kennt das ja alles aus Kapielskis Lichtbildervorträgen, in denen der populäre Künstler turnusmäßig, statt wie angekündigt zur Lage der Kunst und der Welt Stellung zu nehmen, von einem geheimen inneren Magnetismus gelenkt stets beim Kleinteiligen landete, beim vordergründig Häßlichen und Ephemeren, das er in Schautafeln auseinanderlegte. Und der architektonische und folkloristische Idealtypus davon ist nun mal Neukölln, dessen psychogeographische Erkundung auch ich seit einiger Zeit notgedrungen, aber mit Interesse betreibe.

Was Kapielski nun bewogen hat, Teile seiner Sammlung als Buch herauszugeben, mit Text unter den Bildern drunter, weiß man nicht genau, möglicherweise war es ein der Trauer verwandter Impuls. »Aqua botulus« ist nämlich auch eine Art Künstlerroman. Im durchweg autobiographischen Textteil erzählt das Buch davon, wie sich umherschweifende, immer noch nicht (oder nicht mehr) fest institutionell gebundene Formen urbaner Intelligenz heutzutage so durchs Leben schlagen, wie sie etwa in grünen Audis zu Symposien ins Österreichische brausen und wie dann der halbe Kongreß inklusive Baudrillard und Kittler, statt ernsthafterweise an diesem ganzen Simulations-Signifikanten- WWIII-Kram weiterzugrübeln, auf eine Art Haferlschuhe abfährt, die der Autor zusammen mit seinem Bounty-süchtigen Geistesbruder Frieder Butzmann auf nächtlicher Freß- und Sauftour in einem Schaufenster entdeckt hat.

Das ist natürlich lustig, zumal es sich (Schlüsselroman!) um identifizierbare Personen des Zeitgeschehens handelt, zugleich aber seinerseits im Grunde ernste Demontagearbeit. Die Ideologie subversiven Kruschtelns wird mit den Mitteln Jörg-Schröderscher Klatschkolportage einmal mehr als ebensolche überführt, denn »Boheme geht wegen der Mietpreise auch gar nicht mehr«. Aus der Traum vom ewigen Dada der Hinterhöfe. Was allerdings auch gesagt werden muß: In Berlin hat diese Spezies länger überlebt als anderswo (etwa in Hamburg, Köln oder gar München), und dieser vorteilhafte Rückstand wird von Kapielski literarisch wie antiideologisch ausgebeutet: Als Berliner sieht man zwar überall aus wie ein Penner, muß aber deswegen bestimmten Zeiterscheinungen auch nicht mehr hinterherrennen.

Hier deutet sich übrigens auch ein innerer Zusammenhang zwischen Neukölln-Folklore und Berliner Bohemedasein an: (Anti)- Kunstproduktion wie verzierte Kühlerhaube verdanken sich gleichermaßen einem inneren Widerstand gegen die Modernisierung, von deren Segnungen man sich begründetermaßen nichts verspricht. Die Kühlerhaube scheitert allerdings weniger melancholisch als der Bohemien; im volkstümlichen Ausdruck sieht dieser sich mit einer Entäußerung des Unbewußten konfrontiert, deren genuin vitale Dumpfheit er insgeheim bewundert.

Blind übernehmen darf er sie trotzdem nicht. Ob sein Fehltritt mit »gaskammervoll« Kapielski heute leid tut, ist »Aqua botulus« nicht zweifelsfrei zu entnehmen (wohl eher nicht), aber es scheint eine gewisse Einsicht dafür vorhanden, daß der Journalismus nicht unbedingt der Ort für surrealistische Formen des Kommunikativen ist. Erst der Roman bietet die Möglichkeit, Polonaisen un- oder halbbewußter Rede mit Fragmenten einer dialektischen Theorie der Intelligenz zu vermitteln (»Die Doofheit ist die Fortsetzung der Intelligenz mit anderen Mitteln« oder »Einfaltspinsel = Ausfallspinsel«, heißt es in »Aqua botulus«). Was dem Künstler in seiner prekären Situation immerhin noch bleibt, ist die Bewegung, der Stellungskrieg gegen die verschiedenen Formen des Falschen, auch die Technik des Versumpfens als einer Form der Guerilla. Nicht zufällig erzählt Kapielski — unter sehr vielem anderen — auch die Geschichte, wie er im Café Swing am Nollendorfplatz einmal einen Vortrag hatte halten sollen.

Schon Stunden vorher setzte er sich von Neukölln aus in Richtung Schöneberg in Bewegung, kam aber nie dort an, vordergründig, weil zwischen 44 und 30 zu viele Kapielskische Stammkneipen liegen.

Die Anekdote gibt ihre Lehre nicht unmittelbar heraus, doch eine genaue Lektüre bestätigt, daß der tiefere Grund für das unentschuldigte Fernbleiben in der Verwendung einer eklig-modernistischen Vokabel bestand: Die Veranstalter hatten Kapielskis Vortrag als »Performance« angekündigt.

Thomas Kapielski: »Aqua botulus«. Roman (?). Maas Verlag Berlin 1992, 184 Seiten, 28 DM.