Kunstkammer und Computerbild

Ein Interview mit Horst Bredekamp über die Zukunft der Kunstwissenschaft als mögliche Leitwissenschaft der Gegenwart  ■ Von Rüdiger Zill

taz: In ihren Kunstkabinetten — in gewisser Hinsicht Vorläufer unserer modernen Museen — versammelten die fürstlichen Herrscher der frühen Neuzeit nicht nur Objekte der bildenden Kunst, sondern auch historische und kulturgeschichtliche, naturwissenschaftliche und technische Gegenstände. „Hohe Kunst“ fand sich da neben Mineralien, mechanischen Modellen und mathematischen Instrumenten. Schon dort sehen Sie nun manifestiert, was auch vom heutigen Menschen immer öfter behauptet wird, er sei ein spielerisches Wesen, ein „Homo ludens“. Warum wird gerade in diesen Kunst- und Wunderkammern Kreativität freigesetzt?

Horst Bredekamp: Ich glaube, aus dem Grunde, als die Grenzen und die Barrieren zwischen den verschiedenen Bereichen durch das Arrangement der Objekte in diesen Sammlungen überspielt werden. Die Grenzen zwischen Kunst und Technik sowie den drei Reichen der Natur, seien es Steine, Pflanzen oder Tiere, all diese Grenzen werden in den Kunstkammern überspielt, so daß sich zwischen den dort gesammelten Objekten, ganz im Gegensatz zu den modernen Museen, ununterbrochen visuelle Spielmöglichkeiten ergaben. Darin liegt eine Parallele zur heutigen Situation, in der das Bild in verschiedenen Wissenschaften wie der Gedächtnisforschung, der Neurobiologie, wie auch in der Computersimulation eine starke Rolle einnimmt. Insofern sind Kunst und Kunstgeschichte geradezu aufgerufen, wiederum die Einheit des Bildes über die Grenzen hinweg zu rekonstruieren.

Sie haben in diesem Zusammenhang den starken Satz gebraucht, daß die Kunstgeschichte genau aus diesem Grunde heute Leitwissenschaft sei oder werden könnte. Warum kommt ihr erst jetzt diese Funktion zu, gerade wenn Sie die Kontinuität betonen zwischen den Kunst- und Wunderkammern und heute?

Durch die Stilgeschichte, die Prägung der Geschichtsepochen und die Motivforschung hat die Kunstgeschichte innerhalb der Geisteswissenschaften um 1900 schon einmal eine sehr wichtige Rolle gespielt. Etwas ähnliches scheint sich heute zu vollziehen. Ich glaube, daß der Grund darin liegt, daß der Computer über die Digitalisierung alle menschlichen Produkte zum Bild machen kann. Auf dem Screen des Computers spielt sich — um es ganz verkürzt zu sagen — das ab, was sich um 1600 in der Kunstkammer abgespielt hat. Die Gegenstände kommen in einen spielerischen Austausch über das Bild.

Sie verstehen Kunstgeschichte als die Wissenschaft vom Bild schlechthin. Das ist nun nicht unbedingt die gängige Definition dieses Faches. Ist die Kunstgeschichte mit dieser Definition nicht einfach überfordert? Kann sie diese Aufgabe mit den Methoden, über die sie heute verfügt, leisten?

Das kann sie. Einerseits werden 80 Prozent der Kunstgeschichte immer im stilgeschichtlichen Ordnen, Bewahren und Analysieren historischer Kunst und gerade auch Hochkunst bestehen. Das ist die klassische Museumstätigkeit und auch die Grundlage der Lehre an der Universität. Eine andere Zielrichtung besitzt die von Warburg begründete Ikonologie. Warburg hat sowohl über Briefmarken gearbeitet als auch über die „Primavera“ von Botticelli. Panofsky hat eben über die Kühlerfigur des Rolls-Royce ebenso wie über die „Melancholia“ Dürers gearbeitet. In der ikonologischen Schule, die um etwa 1900 begründet wurde, gibt es keine hierarchischen Unterschiede innerhalb der menschlichen Artefakte, und deswegen ist die Kunstgeschichte im ikonologischen Sinn eine Bildwissenschaft.

Aber eine Wissenschaft vom Bild kann sich ja nicht auf ikonologische Aspekte beschränken. Da kommen doch sehr viel mehr Aspekte noch hinzu, zum Beispiel die Bildwirkung. Ich erinnere nur daran, daß prominente Kulturkritiker heute sagen: „Wir sind vom Bild umstellt“, wir könnten den Unterschied von Schein und Sein nicht mehr wahrnehmen und hielten das Bild für die eigentliche Realität. Wie kann die Kunstgeschichte mit diesem Vorwurf umgehen? Verfügt sie über das Instrumentarium, dem entweder etwas zu entgegnen oder es produktiv aufzunehmen und entgegenzuwirken?

Ich würde es umgekehrt formulieren: Die gegenwärtige Theorie der Bildsimulation — daß also im Grunde alles nur Bild ist, was uns umgibt — ist deshalb so kurzschlüssig, weil sie nicht über das Instrumentarium der Kunstgeschichte verfügt. Alles was in den letzten 20 Jahren über die Dominanz des Bildes gesagt worden ist, eine Dominanz, die man nicht mehr hinterfragen kann, so daß zwischen Realität und Nicht-Realität gar nicht mehr zu unterscheiden ist, all das ist der Topos der Kunstgeschichte, der sich bis auf die Griechen zurückverfolgen läßt. Und immer ist gefragt worden, inwieweit Schein und Wirklichkeit zusammenfallen oder inwieweit sie Bereiche sind, die voneinander zu trennen sind. Ich würde den Bildsimulationstheoretikern vorschlagen, wenn dies nicht zu arrogant klingen würde, sich auf die Höhe der kunstgeschichtlichen Terminologie zu begeben, um auch die Gegenwart besser begreifen zu können. Darin sehe ich eine aktuelle Funktion der Kunstgeschichte: diesen Prozeß auch von ihrer Seite zu beschleunigen.

Ist es wirklich eine Frage der Terminologie? Muß man nicht doch sagen, daß angesichts der veränderten Wirklichkeit, auch der veränderten Qualität von Bildern, diese Terminologie nicht mehr ausreicht?

Ich würde glauben, doch. Insofern, als eine kritische Kunstgeschichte in traditionellem Sinn die Aufgabe hat, das Bild nicht nur zu erklären, sondern auch die Übermacht des Bildes zu denunzieren, also eine aufklärerische Tätigkeit zu vollziehen. Die Theorie, daß Bilder uns heute mit einer fast absoluten Übermacht umgeben, ist eine Neuauflage der ikonodulen (bildverehrenden) Bildtheologie des neunten und zehnten Jahrhunderts, die gegen den byzantinischen Bildersturm formuliert worden ist. Die Theorie, daß der Unterschied zwischen dem Göttlichen und dem Bildlichen getilgt wird, so daß im Bild etwas Überwirkliches, Überirdisches erhalten ist, findet heute seine Fortsetzung darin, daß, da wir Gott nicht mehr kennen, das Irdische im Bild per se vollkommen enthalten ist, so daß es uns als eine nominose, unantastbare Macht gegenübertritt. Und wie die Kunstgeschichte diesen Zusammenfall von Bild und Sinn immer auseinanderzusprengen versucht hat, um sich analysierend dem Wesen des Bildes zu öffnen, ist diese Aufgabe heute aktueller denn je. Hierin sehe ich die Brücke und nicht etwa ein konservatives Beharren, sondern ein Einlösen des aufklärerischen Zugriffs der Bildwissenschaft.

Aber wie kann das im einzelnen geschehen? Ist das ein ideologiekritisches Herangehen an diese These von der Identität von Bild und Abbild, oder muß man die bildkritische Diagnose nicht doch erst einmal etwas ernster nehmen, um dann zu zeigen, daß es doch Unterschiede gibt zwischen einem spätantiken Bildersturm oder einem reformatorischen und heute?

Man muß das sehr ernst nehmen. Ich erachte beispielsweise Baudrillard als einen großartigen Phänomenologen, der die Erscheinung vermutlich so kühn und so frühzeitig beschrieben hat wie kaum jemand sonst, aber der Phänomenologe muß seinerseits hinterfragt werden. Die Beobachtung kann nicht als Wahrheit per se bestehen bleiben, das heißt, all das, was er und verwandte Theoretiker formulieren, nehme ich ernst, bleibe dort aber nicht stehen. Ich habe eben große Zweifel, ob die Bilderwand, die Ikonostasis in einer byzantinischen Kirche, ob der Bilderkult in der Spätantike — Riegl hat über die spätrömische Kunst- und Kulturindustrie geschrieben —, ob die Prägekraft der Bilder nicht einstmals weitaus mächtiger waren als all das, was uns an Screens, Fernsehen, Filmen und so weiter umgeben. Die Frage bleibt eine anthropologische und nicht eine, die sich von heute her vollkommen neu stellt. Das wäre mein Ansatz. Dennoch haben Sie darin vollkommen recht, daß man sich immer über die besonderen Bedingungen, unter denen dieser Mechanismus abläuft, neue Gedanken machen muß, und aus dem Grunde — um das abzuschließen — nehme ich Baudrillard ernst.

Die früheren Beispiele des Bildkults waren immer vor dem Hintergrund einer Gesellschaft angesiedelt, in der nur eine Minderheit schreiben und lesen konnte. Nun sind wir ja heute weitgehend eine Gesellschaft von Schriftkundigen. Die Kritik setzt also neu an: Bilder haben keine Syntax, sie wirken rein emotional, sie zerstören den rationalen Diskurs. Würden Sie diese Gefahr auch sehen?

Daß die aufklärerische Sprachkultur zugunsten der Bildkultur verlorengeht? Das ist einerseits eine Gefahr, ohne jede Frage. Auf der anderen Seite wäre alles, was ich bisher gesagt habe, sinnlos, wenn ich nicht in dem Umgang mit Bildern selber eine ebenso intellektuelle und aufklärerische Qualität sehen würde, wie es die Sprache ermöglicht. Ich sehe die Aufgabe der Kunstgeschichte darin, das Auge zu trainieren, zu einem kritischen Instrument zu machen, das im Idealfall auch ohne Sprache Bilder zu analysieren versteht, im Extrem so schnell, wie Fernsehbilder sich verändern. Die einzig mögliche Reaktion darauf ist, oder besser: eine mögliche Reaktion auf das, was uns gegenwärtig umgibt, ist, glaube ich, das ruhige, intensive Trainieren des kritischen Auges.

Das Auge allein ist aber blind. Gehen wir etwa zurück in die Zeit der Kunstkammern. Maschinen standen damals Modell für die neue Philosophie: die mechanistische (Descartes, Hobbes). Sie wäre aber andererseits nicht denkbar, wenn nicht gleichzeitig auch theoretische Entwicklungen stattgefunden hätten wie etwa die Galileische Physik. Müssen nicht immer beide Aspekte, Sinnliches und Begriffliches, zusammenkommen? Wie soll das Auge die Dinge auch ohne Sprache analysieren können?

Man kann das verdeutlichen an der Frage der Museumsdidaktik. Vor zwanzig Jahren sind die Museen mit Schrifttafeln als ein Hilfsmittel der Erklärung von Kunstwerken überschwemmt worden. Die ideale Museumsdidaktik würde jedoch darin bestehen, daß derselbe Effekt sich ergibt, ohne daß nur eine Schrifttafel dort hängt, daß die Bilder sich also in ihrem eigenen Medium erklären, ohne daß man deswegen zum begriffslosen Staunen verkommt. Ich glaube tatsächlich, daß das Auge in ein kritisches Instrument verwandelt werden kann. Und auf diese Weise sind wir wieder bei Ihrer Anfangsfrage, daß verschiedene Wissenschaften, wenn sie sich den gegenwärtigen Anforderungen stellen wollen, sich in einem kritischen Bildverständnis treffen, von allen Seiten her, sei es aus der Kunst, sei es aus der Neurobiologie, sei es aus der Linguistik oder der Anthropologie.

Das ist ein sehr anspruchsvolles Programm. Zum Training des Auges gehören die Trainer und die Trainierten, das heißt, das Fach müßte in die Öffentlichkeit, noch stärker, als es das bisher tut. Wie könnte das aussehen?

Das kann man nicht programmatisch festlegen, das ereignet sich, oder es ereignet sich nicht. Die Kunstgeschichte hat weitgehend versäumt, sich dem Film zu stellen, und damit hat sie einen Sündenfall begangen. Genau dasselbe kann heute auch geschehen. Es ist nicht sicher, daß die Kunstgeschichte begreift, welchen Stellenwert sie heute haben könnte und müßte. Es gibt aber eine Reihe von Kollegen, so daß ich einige Hoffnung habe, daß sie sich neben ihren traditionellen Aufgaben dieser für das nächste Jahrhundert vielleicht entscheidenden Aufgabe zu stellen vermag.