■ Liebe Christ- und Sozialdemokraten, liebe Liberale und Grüne, liebe Altkommunisten und Neonazis!
: Offener Brief an alle

„Ich liebe euch alle“, sagte Erich Mielke den Abgeordneten der DDR-Volkskammer. Ich hingegen, um die Wahrheit zu sagen, habe Euch alle nie gemocht. Mit „euch alle“ meine ich die Deutschen in Ost und West, Erich Mielke an der Spitze. Unsere Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Tatsache ist, daß ich in Deutschland zu einer radikalen Minderheit gehöre, die nie besonders große Sympathie genoß. Ich bin nämlich Demokrat. Habe ich schon erwähnt, daß ich ein weißer Neger bin? Meine Vorfahren großmütterlicherseits kamen aus Haiti und waren schwarz. Damit bin ich beim Thema. Ich will hier nicht von mir selbst sprechen, sondern von Menschen dunkler Haut- oder Haarfarbe und fremder Nationalität, die seit Wochen Nacht für Nacht um ihr Leben und ihre Gesundheit bangen in Cottbus und Hoyerswerda, Quedlinburg, Rostock oder Wismar — die Liste ließe sich beliebig verlängern. Wer sind diese Leute? Ausländer, Asylanten, lautet die fixe Antwort, so als seien Afrikaner und Asiaten keine Menschen — von Roma und Sinti ganz zu schweigen. Muß ich wirklich daran erinnern, daß in Auschwitz Zigeuner vergast wurden, nachdem sie von der deutschen Herrenrasse zu Untermenschen erklärt worden waren?

„In der Kolonialzeit waren die Regale voll“, sagte mir kürzlich ein angolanischer Freund, „aber wir hatten kein Geld, um Waren zu kaufen. Im Sozialismus waren die Regale leer, und jetzt sind auch die Regale fort.“ Aus diesem durch portugiesische Kolonial- und kommunistische Funktionärsherrschaft total heruntergewirtschafteten Land kamen ein paar Dutzend junge Leute zur Ausbildung in die DDR, von denen einer namens Amadeu Antonio im November 1990 in Eberswalde von jugendlichen Randalierern zusammengeschlagen und mit einem Stahlkappentritt ins rechte Auge getötet wurde. „Neger abklatschen“ heißt das im rechten Szenejargon. Das Opfer, vom Gerichtsvorsitzenden in kolonialherrschaftlicher Manier stets nur „der Amadeu“ genannt, war das erste Glied in einer Kettenreaktion rassistischer Gewalt, die von den neuen auf die alten Bundesländer übergegriffen hat.

Noch trauriger — falls es hier eine Steigerung gibt — ist das Schicksal der vietnamesischen Kontraktarbeiter, die als Gegenleistung für Warenlieferungen in die DDR verschickt und dort wie Sklaven behandelt wurden. Andere, die den Napalmbomben der Amerikaner und dem nordvietnamesischen Gulag entkamen, werden heute in westdeutschen Wohnheimen mit Molotowcocktails bombardiert. Muß ich von weiteren Schreckenstaten berichten, beispielsweise von behinderten Kindern, die in einer Schule in Stendal von Skinheads krankenhausreif geschlagen wurden?

Wie reagierte die deutsche Öffentlichkeit? Rückten die Demokraten zusammen, besannen sich die Politiker eines besseren und begruben wenigstens in dieser Frage ihren Parteienstreit? Und die friedensbewegten Linken, wie reagierten sie? Mit Entsetzen, Wut und Scham? Nichts von alledem. Die Politiker sprachen von der Asylantenflut, die eingedämmt werden müsse, und beglückwünschten sich dafür, daß es keine Toten gegeben habe — zwei, drei Brandanschläge pro Nacht gegen Ausländerunterkünfte gelten mittlerweile als normal, solange kein deutsches Fernsehteam in dem brennenden Haus eingeschlossen ist. Und die Intellektuellen, anstatt Opfer und Täter beim Namen zu nennen, beklagen wortreich das soziale Elend der Arbeitslosen und den psychologischen Frust der Menschen in der ehemaligen DDR. Soweit ist linkes Denken auf den Hund gekommen, daß von den Neonazis geschürter Haß zum Plebejeraufstand verklärt und sozialpsychologisch entschuldigt werden kann. Repressive Toleranz nannte man das früher: eine hilflose Umarmungsstrategie, die außer einem erschreckenden Mangel an Logik nichts offenbart.

Oder sollte doch mehr dahinterstecken? Eine nicht bloß klammheimliche, sondern offene Affinität zum Totalitarismus, Sehnsucht nach dem starken Mann? Haben auf den Straßen der DDR, aber auch im Nazireich, denn nicht Sauberkeit, Ruhe und Ordnung geherrscht? Damals war Deutschland noch ausländerfrei — ein paar Prozent Kontrakt- oder Zwangsarbeiter fallen nicht ins Gewicht —, und dieser Zustand wird in Ost und West offenbar wieder für erstrebenswert gehalten; jüngsten Umfragen zufolge billigt jeder vierte Deutsche den Slogan „Ausländer raus“. Wenn sie schon auf die SED verzichten mußten, wollten sie wenigstens die Nazis wiederhaben.

So besehen sind die Ausschreitungen von Rostock und anderswo nicht bloß Übergriffe auf Asylsuchende, die der Mehrheit der Bevölkerung (und den von ihr gewählten Politikern) schon lange ein Dorn im Auge sind, sondern ein Generalangriff gegen die Demokratie: Fairneß und Toleranz, Konsens und Kompromiß sind keine Sekundärtugenden, sondern Grundlagen der politischen Kultur, ja der Zivilisation überhaupt. Das Gewaltmonopol des Rechtsstaats steht auf dem Spiel, wenn bewaffnete Schlägertrupps die Straßen beherrschen, denen an Stelle der Gesetzeshüter eine Demonstration von „Autonomen“ entgegentritt, die eine andere Art der Selbstjustiz üben. Das Faustrecht der Prärie und das politische Chaos der Weimarer Republik liegen nahe beieinander.

Hinzu kommt, daß die linke Intelligenz kampflos von der Bühne abgetreten ist und die kulturelle Hegemonie — früher nannte man das „Meinungsführerschaft“ — rechtsradikalen Demagogen überläßt, deren Sprecher, ich glaube, er heißt Hübner, kürzlich von Brandenburgs Ministerpräsident Stolpe im Fernsehen hofiert worden ist: „Wir zwei bleiben im Gespräch miteinander“.

Was ist passiert? Haben die Deutschen den Verstand verloren? Oder reagiere ich überempfindlich, weil ich soeben aus Afrika zurückgekommen bin, wo niemand mich angepöbelt oder mit Brandflaschen beworfen hat, obwohl die Menschen dort mehr Grund dazu hätten als hier? Ist meine Sympathie für die Dritte Welt nur noch ein Anachronismus, von dem ich mich schnellstens verabschieden muß, wie Johannes Groß kürzlich in seiner Talkshow behauptete — mit dem Argument, seit dem Ende des Kalten Krieges sei Afrika für den Rest der Welt hoffnungslos irrelevant?

Während Johannes Groß redete, war unter den Zuschauern seiner Talkshow eine schwarze Frau zu sehen, die nichts sagte. Ich wußte nicht, wer sie war oder woher sie kam, aber ich wollte ihr zurufen, daß ich sie liebe, denn ihr Schweigen war beredter als die Rede des weißen Mannes, der im Fernsehen die Dritte Welt zu Grabe trug und so zum intellektuellen Komplizen derer wurde, die in Rostock und Hoyerswerda Brandsätze auf Ausländerkinder werfen. Ich unterstelle Johannes Groß keine unlautere Absicht. Aber der Zeitgeist gefällt mir nicht, der aus seinen Worten sprach. Da halte ich es lieber mit der kürzlich im Tagesspiegel abgebildeten Mutter aus Eisenhüttenstadt, die ihrem Sohn, einem vermummten Steinewerfer, auf der Straße eine Ohrfeige gibt. Hätten wir mehr Mütter ihrer Art, gäbe es im vereinten Deutschland weniger Rechtsextremismus und Fremdenhaß. Hans Christoph Buch

Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Berlin