Morgen, am 3. Oktober, feiert das offizielle Deutschland zum zweiten Mal sich und die wiedergewonnene Einheit der Nation. Für die taz ist der „Tag der deutschen Einheit“ Anlaß, für Gedanken zum Geisteszustand dieses Landes gerade Ausländern ein Forum zu bieten. Der New Yorker Journalist David Binder meint, die Welt brauche keine Angst zu haben vor einem übermächtigen Deutschland im Herzen Europas. Trotz der gegenwärtig vergifteten Atmosphäre ist es seiner Ansicht nach unzulässig, die Mehrheit der Detschen in den allzu bequemen Rahmen von Haß und Intoleranz zu pressen. Andere dagegen lassen auf diesen beiden Seiten ihren Vorurteilen freien Lauf.

Nachdenken über Deutschland im Jahre Zweitausend

Wie stark wird das vereinigte Deutschland sein? Das ist die Frage, die uns Nicht- Deutsche am meisten beschäftigt. Aber irgendwo in meinem Kopf formuliere ich sie immer wieder um: Wie viele Deutschlands wird es geben? Verstehen Sie das nicht falsch. Der Vereinigungsprozeß der beiden deutschen Staaten, der vor drei Jahren begonnen und 1990 formal beendet worden ist, ist irreversibel, so weit wir das heute beurteilen können. Die Kapitel in den Geschichtsbüchern über ein geteiltes Deutschland sind zwar sehr viel länger als die über ein vereinigtes Deutschland — aber die Geschichte ist in diesem Fall keine Orientierungshilfe.

Beide Fragen haben mit Erinnerungen zu tun: „Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche“, sagte der deutsche Kaiser zu Beginn des Ersten Weltkriegs. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“, lautete der Slogan wenig später. Es war die furchterregende Uniformität dieser disziplinierten Deutschen, die der Welt eine solche Angst einjagte. Ganz tief in den Erinnerungen ist diese Angst vielleicht immer noch da.

Wenn ich nun über verschiedene deutsche Nationen im Jahr 2000 spreche, so hat das nichts mit Grenzen oder staatlicher Souveränität zu tun. Ich meine einen Geisteszustand; und ich meine die Streuung der reichen Traditionen deutscher Kreativität. Nun ist der Geisteszustand mancher Deutscher in diesen Zeiten offensichtlich vergiftet. In Deutschland lebende Fremde sind ebenso Ziel haßerfüllter Angriffe wie in Deutschland begrabene Juden.

Unfähig, Führungskraft zu beweisen

Darüber hinaus scheint die Mehrheit der Bevölkerung die Vereinigung zu bereuen, anstatt sie zu begrüßen. Dieses Gefühl von allumfassender Malaise wird in der Person des Bundeskanzlers zum Ausdruck gebracht — jenes Mannes, der die Vereinigung herbeigeführt hat und nun unfähig ist, Führungskraft zu beweisen.

Aber es wäre völlig unangebracht und ungerecht, die Mehrheit der Deutschen in diesen Rahmen von Haß und Intoleranz zu pressen — als sei die ganze Nation noch einmal zu jener wahnwitzigen Uniformität fähig. Ich glaube vielmehr, daß die Mehrheit durchaus Mitgefühl für das Schicksal und das Leiden von Fremden empfindet — was sie wiederholt durch Spenden und Aufnahmebereitschaft gezeigt hat. Also bin ich überzeugt, daß die Deutschen im Jahre 2000 nicht konformistischer sein werden als heute. Das Gegenteil dürfte eher der Fall sein.

Ich frage mich, was ich in acht Jahren in einem Deutschland sehen werde, dessen Hauptstadt wieder Berlin ist. Schließt man von der Vergangenheit auf die Zukunft, müßte Berlin wieder jener politische, wirtschaftliche und kulturelle Magnet werden, der die kleineren Städte zu marginalen Provinzzentren verurteilt. So unwohl ich mich als Journalist in der Rolle des Propheten auch fühle: ich sehe diese Zukunft für Berlin nicht. Die Konzentration moderner Kunst in Köln wird sich nicht nach Berlin verlagern, die Verlagshäuser werden in Hamburg bleiben, das Bankenzentrum in Frankfurt. Einige, wenn auch bei weitem nicht alle Ministerien werden im Jahr 2000 nach Berlin gezogen sein. Der politische Entscheidungsprozeß wird sich hier konzentrieren, aber ich bezweifele, daß der Umzug Richtung Osten nachhaltigen Einfluß auf die Art dieses Entscheidungsprozesses haben wird.

Fähigkeit, über sich selbst zu lachen

Ich kann mir dagegen vorstellen, daß die deutsche Presse ihren Spaß mit Politikern und Bürokraten haben wird, die sich ihre Domizile in der alten und ihre Geliebten in der neuen Hauptstadt halten. Weiß Gott, ich hoffe, daß die Deutschen im Jahr 2000 auch über sich selbst lachen können.

Für sehr wahrscheinlich — und sehr begrüßenswert — halte ich, daß Ostdeutschland in vielen Bereichen wiederaufleben wird. Warum? Weil die Ostdeutschen die Erfahrung der letzten Jahre überwinden werden — als da war, sich die Freiheit durch Zivilcourage auf den Straßen geholt zu haben, um dann von westdeutschen Teppichhändlern, zweitklassigen Lehrern und drittklassigen Juristen kolonisiert zu werden.

Ich würde sogar wetten, daß die deutsche Literatur, vielleicht auch die bildende Kunst und die Musik, im Jahr 2000 von den Ostdeutschen dominiert wird. Es wird eine kulturelle Renaissance geben in Dresden, Leipzig und Halle, Erfurt oder Rostock, wenn die Energien dieser Menschen freigesetzt werden, die so lange durch eine Diktatur und durch die eigene Apathie unterdrückt worden waren. Mit beiden Stadtteilen vereint, wird auch Berlin aufblühen wie selten zuvor.

Wenn die Weltkriege Geschichte sind

Lassen Sie mich zur Ausgangsfrage zurückkommen: Wie stark wird Deutschland im Jahr 2000 sein? In den Augen der Nachbarn wird Deutschland extrem stark erscheinen. Seine Stimme wird öfter zu hören sein und auf internationaler Ebene mehr Einfluß haben — vielleicht sogar durch einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Aber gleichzeitig wird Deutschlands Macht geschwächt und eingedämmt. Denn das Land wird in Europa eingebunden bleiben — egal, wie groß oder klein dieses Europa in der Post-Maastricht-Ära sein wird.

Die Deutschen werden im Jahr 2000, wenn die beiden Weltkriege für sie endgültig Geschichte sein werden, eine objektivere Sichtweise der Welt haben. Die Frage ist, ob auch die Welt eine objektivere Sichtweise von Deutschland haben wird. Aber dieses Thema gebe ich an den nächsten Futurologen weiter. David Binder, New York