■ Zwei Jahre deutsche Einheit — Wechsel ohne Deckung
: Versuch einer rechtspolitischen Bilanz

In Zeiten, in denen der Glaube an verbindliche religiöse Vorstellungen und in denen einheitliche Moralbegriffe abgelöst wurden zugunsten einer Individualisierung, scheinen beste Voraussetzungen für eine pragmatische Politik gegeben zu sein. Dies gilt um so mehr, als gleichzeitig für politische Utopie keinerlei Konjunktur herrscht. Günstige Bedingungen, so sollte man meinen, für eine Rechtspolitik jenseits des einschnürenden Korsetts von religiösen, moralinsauren oder ideologiebehafteten Beschränkungen, orientiert einzig an den Vorstellungen der bundesrepublikanischen Verfassung und deren Weiterentwicklung.

Wie sehr die Rechtspolitik in den beiden Jahren seit der Einheit hinter ihren Möglichkeiten zurückblieb, sei an einigen ausgewählten Beispielen aufgezeigt.

Erblasten der DDR

Die Behandlung der führenden Repräsentanten der DDR ist höchst widersprüchlich. Während sich ein Teil in Untersuchungshaft befindet, wie Honecker, Stoph und Mielke, sind andere, die sich offensichtlich noch nützlich zu machen wußten wie Wolf oder Schalk-Golodkowski, weiterhin auf freiem Fuße. In den durchgeführten Strafprozessen wie gegen Harry Tisch ging es teilweise um Unterschlagung und Untreue, als habe es für die führenden Funktionäre nicht ausreichend legale Möglichkeiten der Bereicherung gegeben, vor denen die Justiz aber sichtbar kapituliert.

Erich Mielke sitzt nicht etwa wegen der Installierung des Stasi- Terrorapparates auf der Anklagebank, sondern wegen Polizistenmordes aus der Weimarer Zeit, unter Verwendung von Zeugenaussagen aus den Folterkellern der Nazizeit. Gegen Erich Honecker wird eine Hauptverhandlung stattfinden, die ohne Urteil endet, weil der Angeklagte die Beweisaufnahme nicht überleben wird. Mit den Mauerschützen hält man sich bei den vielen Rädchen im Getriebe auf, ohne zu ihren Vorgesetzten, Ausbildern oder gar Volkskammerabgeordneten vorzustoßen, die für den Erlaß des „Grenzgesetzes“ zuständig waren. Schon jetzt ist das Fiasko des Versuches abzusehen, die DDR-Geschichte mittels des Strafgesetzbuches aufzuarbeiten. Ein schlüssiges Konzept des Umganges mit führenden Repräsentanten der DDR ist nicht zu erkennen.

Regelung der Eigentumsverhältnisse

Durch den Einigungsvertrag wurde der Grundsatz „Rückübertragung vor Entschädigung“ für die Eigentumsverhältnisse in den fünf neuen Bundesländern festgelegt (Ausnahme: Enteignungen, die bis 1949 durch die sowjetische Besatzungsmacht erfolgten). Durch die Festlegung dieses Grundsatzes entstand und entsteht erheblicher sozialer Sprengstoff: Ein Teil der von der Rückübertragung betroffenen Besitzer von Grundstücken wähnte sich als Eigentümer und gerierte sich auch so. Ein anderer Teil sah sich durch die Ausgestaltung der Nutzungsrechte in einer dinglich gesicherten Rechtsposition. Hier führt der Grundsatz der Rückübertragung vor Entschädigung aus der Sicht der Betroffenen zu deren Enteignung.

Insbesondere die exorbitante Steigerung der Bodenpreise in den Innenstädten führt dazu, daß bei ungeklärten Eigentumsverhältnissen die Lust zum juristischen Streit und damit zur Verzögerung des Verfahrens wächst. Wer durch einen juristischen Streich vom Sozialhilfeempfänger zum Millionär werden kann, wird den juristischen Streit führen. Weiteren Stoff für Konflikte enthalten die Regelungen, die statt Rückübertragung Entschädigung anordnen. Das Vermögensgesetz bewirkt im Ergebnis, daß ein Teil der Betroffenen sich grundlos enteignet sieht, ein anderer Teil wird grundlos entreichert, ein anderer Teil wird reich aufgrund durch Gesetz angeordneten Zufalls. Ein solches Gesetz ist nicht akzeptabel, insbesondere auch dann, wenn die durch das Gesetz bewirkten Verfahren Zeitdimensionen annehmen, in denen Investoren zur Aufgabe ihrer Investitionsabsicht gebracht werden.

Abstieg vom Petersberg

Durch ihre Petersberger Beschlüsse hat die SPD die Tür für bundesdeutsche „Blauhelmeinsätze out of area“ aufgestoßen. Sie kommt damit denen entgegen, die sofort nach dem Fall der Mauer neue Einsatzmöglichkeiten für die Bundeswehr suchten bis hin zum Ökoeinsatz im tropischen Regenwald. Die Frage nach der an sich auf der Tagesordnung stehenden Auflösung der Bundeswehr nach dem Verschwinden der NVA soll gar nicht mehr gestellt werden. Die Begründung, das „größer gewordene Deutschland“ habe eine „gesteigerte Verantwortung“ für die Einhaltung des Völkerrechts, überzeugt nicht: Verantwortung gegenüber anderen Völkern, gegenüber dem Völkerrecht, sollte sich nicht erst dann äußern, wenn es zu Bürgerkriegen, Völkerrechtsverletzungen und Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. Gefragt ist eine Außenpolitik, die vorausschauend Konflikte analysiert und konfliktvermeidend tätig wird.

Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes

Zwei Jahre lang hat die CDU die SPD aufgefordert, mit ihr eine Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes zu tragen. Durch die „Petersberger Beschlüsse“ hat nunmehr die SPD die Bereitschaft signalisiert, einer Grundgesetzänderung zuzustimmen. Damit scheint eine Änderung des Artikels 16 GG gewiß, wenngleich über die Modalitäten noch gestritten werden dürfte. Ähnlich wie bei der Diskussion über die Änderung des Einsatzauftrages der Bundeswehr hat die Diskussion um Artikel 16 des Grundgesetzes Züge einer Groteske: die unter dem Rubrum „Asylmißbrauch“ geführte Diskussion läßt außer acht, daß zum einen Bürgerkriegsflüchtlinge gesetzlich gezwungen werden, ein Asylverfahren zu betreiben, da ein anderes Verfahren für sie nicht zur Verfügung steht, und sie insofern das Asylrecht „mißbrauchen“ müssen, weil es das Gesetz vorschreibt. Zum anderen würde die völlige Abschaffung des Artikels 16 des Grundgesetzes die Geltung der von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten Genfer Flüchtlingskonvention nicht außer Kraft setzen mit der Rechtsfolge, daß die meisten Flüchtlinge auch ohne Asyl ein — wenn auch nur zeitlich begrenztes — Bleiberecht erhalten müssen. Zum dritten würde die völlige Abschaffung aller juristischen Möglichkeiten zum legalen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland Flüchtlinge nicht hindern zu versuchen, in Deutschland Zuflucht zu suchen. Insofern hat die Diskussion um eine Änderung des Artikels 16 des Grundgsetzes Erwartungen geschürt, die nur enttäuscht werden können, das Spiel mit dem Feuer — die SPD durch die Unterbringungskonflikte vor Ort weichzukochen — hat den randalierenden Mob erzeugt, von dem niemand sagen kann, ob er sich in die Flasche zurückbannen läßt. Politiker, die zwei Jahre lang ein Thema — die „Asylantenflut“ — zum innenpolitischen Hauptproblem hochreden und gleichzeitig erklären, zu seiner Lösung nicht imstande zu sein, brauchen sich über Art Amtshilfe des Bürgers mit Molotowcocktail und Stein nicht zu wundern. Sie sind die geistigen Brandstifter.

Innere Unsicherheiten
Seit mehr als zehn Jahren gibt es politische Forderungen, die Befugnisse der Polizei auszuweiten. Dies betrifft sowohl Instrumentarium (verdeckte Ermittler, Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel) als auch die gesetzlich fixierten Eingriffstatbestände (Eingriff der Polizei im Vorfeld ohne konkreten Verdacht und ohne Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung). Dahinter steckt eine Philosophie der inneren Sicherheit gemäß der die Polizei das geeignete Organ ist, diese Sicherheit zu vermitteln. Da offenbar Gesellschaften immer unsicherer werden, müssen Polizisten immer frühzeitiger eingreifen, und müssen ihnen immer weitreichendere Mittel zur Verfügung gestellt werden. Nun ist richtig, daß die Kriminalitätszahlen steigen (wobei sicherlich ein relevanter Anteil beruht auf einer völlig verfehlten Form der Drogenpolitik, die Abhängige in die Beschaffungskriminalität treibt), und noch stärker als die Kriminalität statistisch steigt, steigt die Unsicherheit der Bevölkerung. Ursache hierfür ist allerdings nicht einfach das Anwachsen von Zahlen. Die Ursachen sind komplexer. Das Gefühl von Sicherheit entsteht durch konstante familiäre und soziale Beziehungen zu Milieus, durch gemeinsam ausgeübte Rituale, durch ständiges Wiedererkennen dessen, was sich nicht verändert. Unsicherheit entsteht, wenn dies alles fehlt. In diesem Sinne ist das Thema innere Sicherheit zu allerletzt ein Problem polizeilicher Eingreifbefugnisse und des Einsatzes polizeilicher Mittel. Fazit

Wenn anläßlich des 40jährigen Bestehens des Grundgesetzes und anläßlich der deutschen Wiedervereinigung die Bundesregierug nicht müde wurde, die Vorzüge dieser Verfassung zu preisen und jede Veränderung weit von sich zu weisen, sie andererseits nach erfolgreichem Bestehen der Bundestagswahl zum Sturmlauf auf die Artikel 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung), Artikel 16 (Ayslrechtsgarantie), Artikel 19 (Rechtsweggarantie), Artikel 87a (Verteidigungsauftrag der Bundeswehr) ansetzt, beweist sie nur, daß die Verfassung für sie politische Manövriermasse ist. Wenn seit einigen Jahren die Kategorie des Verfassungsfeindes in den öffentlichen Verlautbarungen im Gegensatz zu den 70er Jahren keine Rolle mehr spielt, dann wohl deshalb, weil die Regierung selber mit der eigenen Verfassung auf Kriegsfuß steht. Dahinter muß jede andere gegen das Grundgesetz gerichtete Bestrebung verblassen. Wolfgang Wieland/Uwe Günther

Erster Vorsitzender/Geschäftsführer des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins