Frei nach dem gleichnamigen Film

■ Die Vorleserin: Judith Rosenthal, Bremen, auf KundInnensuche: „Die Leute haben Angst - es ist eine sehr intime Angelegenheit“

Sie ist klein und sehr zart und hat eine schöne, ausdrucksvolle Stimme, der man nach einer Weile den amerikanischen Ursprung anmerkt. Judith Rosenthal, Übersetzerin, Sprachlehrerin und — Vorleserin. Ihre Anzeigen finden sich hier und da in Bremer Zeitungen: „Lehnen Sie sich zurück, entspannen Sie sich, hören Sie einfach zu...“

„Mein erster Kunde war ein Student. Er schrieb an seiner Examensarbeit und war sehr allein. Ich habe ihm 'Tortilla Flat' von John Steinbeck vorgelesen. Er hat sich in mich verliebt, aber er war die ganze Zeit sehr korrekt. Ich hatte keine Angst vor ihm, im Gegenteil, eigentlich hat es die Vorlese-Situation im positiven Sinn verändert.

Das Vorlesen ist eine Verliebesituation. Ja. Das ist der Kern dieser Sache. Es hat etwas sehr Persönliches — und auch wieder nicht. Ich zeige zwar sehr viel von mir, aber gleichzeitig ist der Abstand einprogrammiert. Nicht ich spreche, sondern die Vorleserin.

Natürlich denke ich sehr viel an diesen Film „Die Vorleserin“. Der hat mich auf die Idee gebracht, es selbst damit zu versuchen. Vor allem mochte ich die Beziehung der Vorleserin zu der sehr alten und etwas verrückten Frau. Ich liebe die alten Menschen, aber ich bin immer so entfernt von ihnen. Ich würde gern einem alten Menschen etwas Gutes tun.

Das Vorlesen gegen Geld und Bestellung ist eine ungewöhnliche Idee. Ich kenne zwar viele, die daran gedacht haben es zu tun, vor allem nach dem Film. Meine Freunde finden es skurril und komisch, daß ich es in Wirklichkeit mache, aber sie sind auch sehr fasziniert.

Ich würde keine erotische Literatur vorlesen, wahrscheinlich

„Mein Lieblingskunde wäre einer, der das Spiel versteht“

nicht. Das hätte zu sehr den Charakter von Telefonsex. Schon jetzt rufen oft Leute an, Männer, bei denen merke ich sofort: sie wollen rauskriegen, was möglich ist. Da sage ich gleich nein.

Aber auch so haben die Leute Angst, sich auf die Vorlesesituation einzulassen. Sie rufen an — und dann trauen sie sich doch nicht. Vielleicht, weil es eine sehr intime Angelegenheit ist. Das ist es. Es erinnert an die Kindheit, an die Mutter, die sich ans Bett setzt und dem Kind etwas vorliest. Daher kennen die meisten das Vorlesen. Das hat meine Mutter früher auch immer getan, das einzige, was sie mit uns Geschwistern zusammen gemacht hat. Es ist eine warme, kuschelige Kindheitserinnerung.

Ich habe einen Sohn, acht Jahre alt. Dem lese ich jeden Abend eine halbe Stunde vor. Gerade ist es Winnetou I auf englisch, schon zum zweiten Mal. Eine Frau habe ich, die hört unheimlich gerne Kindergeschichten, „Alice in Wonderland“. Ich finde es toll, wenn Erwachsene sich auf Kinderliteratur einlassen. Ich liebe sehr die witzigen Sachen. „Winie-The-Pooh“ zum Beispiel, aber das muß unbedingt auf englisch sein, unbedingt.

Aber ich lese auch gern aus Heinrich Böll's „Irischem Tagebuch“ vor. Meine Vorfahren sind ja zum Teil Iren. Die Geschichte über die Zeit, die sollten sich die Leute merken: Als Gott die Zeit machte, hat er genug davon gemacht...“

Mir haben schon immer alle gesagt, daß ich gut lesen kann, daß sie meine Stimme angenehm finden. Ich habe ja etwas Angst, daß mein amerikanischer Akzent stört, aber eigentlich glaube ich das nicht. Ich würde auch am Telefon vorlesen. Das wäre vielleicht sogar besonders spannend. Wenn ganz und gar nur die Stimme zählt. Ich wünschte, die Leute würden nicht soviel Angst davor haben, einfach eine Vorleserin zu bestellen. Es ist nicht teuer, 35 Mark für eine Stunde, und es ist soviel besser als Fernsehgucken. Man kann auch müde dabei werden, das macht nichts. Nur wenn jemand einschlafen würde, das wäre verwirrend.

Ein Job wie jeder andere ist Vorleserin sein nicht, um Gottes Willen! Mein Lieblingskunde, das wäre so einer wie dieser Student, einer, der das Spiel versteht, der das Vorlesen aber trotzdem nicht einfach zum Vorwand für eine Beziehung nimmt. Diese sanfte Art der Erotik kann auch bei Frauen wirken, natürlich. Mit wem auch immer, es ist in jedem Fall eine erotische Situation. Aber es muß natürlich nicht sein.“ Cornelia Kurth