Hunger und Winter als Waffen

■ In Sarajevo stehen die schwersten Schlachten noch bevor/ In Genf droht Karadzic, die Verhandlungen zu verlassen

Seit Montag wird in Sarajevo mit einer Heftigkeit gekämpft wie schon lange nicht mehr. Beobachter fragen sich, ob die serbische Seite zu der lang angekündigten Entscheidungsschlacht ausholt. Nach dem Sarajevoer Stadtkommandanten Siber ist die Zeit noch nicht reif für eine serbische Endoffensive. Seine Prognose: Die serbischen Aggressoren wollen die Kapitulation Sarajevos durch Dauerbeschuß aus den umliegenden Bergen ohne verlustreiche Straßenkämpfe erzwingen. Die „Waffen Hunger und Winter“ sollten für diesen schmutzigen Krieg Pate stehen. Zugleich versicherte der Kommandant: „Wir werden nie kapitulieren.“

Weshalb aber den muslimisch- kroatischen Verteidigern die Befreiung Sarajevos aus eigenen Kräften nicht gelingt — nicht einmal ein Durchstoß durch den serbischen Belagerungsgürtel — darüber lassen sich die bosnischen Militärs nicht aus. Kommandant Siber sagt, er schweige, um dem Feind nicht die eigene Kampftaktik zu verraten.

Nach Ansicht ehemaliger jugoslawischer Militärexperten sind alle Seiten weit entfernt von einer erfolgreichen Kriegstaktik. Der slowenische Militärberater Gersak, der auch als Berater des bosnischen Präsidenten Izetbegovic tätig ist, hält die serbische Seite für militärisch in der Lage, sieben der ehemals neun Stadtbezirke von Sarajevo einzunehmen. Allerdings würde es den Serben nicht gelingen, ihre Eroberungen langfristig zu halten. Sie könnten die Stadtteile in Schutt und Asche legen, nicht aber wieder bewohnbar machen. Ein Sieg in Sarajevo hätte aber nur dann einen Sinn für sie, wenn sie die bosnische Hauptstadt zu einer serbischen Metropole ausbauen könnten.

Vor diesem Dilemma steht die serbische Armee generell in Bosnien: Belgrad hat zwar fast zwei Drittel des bosnischen Territoriums erobert und die kroatische und muslimische Bevölkerung vertrieben, doch nirgends „normalisierte“ sich nach der „Befreiung“ der Alltag. Hunger- und Kältetod drohen nicht nur in Sarajevo, sondern gerade auch in den „freien“ serbischen Enklaven, die von der Außenwelt, vor allem vom „Mutterland Serbien“, vollkommen abgeschnitten sind. Militärexperten, die der bosnischen Regierung nahestehen, sehen darin ihre Chance: Sie wollen aufrüsten und erst im Winter zurückschlagen, wenn die Serben ihre Munition und Granaten verschossen haben, aufgrund der Witterung der Nachschub nicht mehr aufrechterhalten werden kann und in den „befreiten“ serbischen Gebieten Bevölkerung und Soldaten zu meutern beginnen. Gelingen kann dieser Plan freilich nur, wenn Kroatien direkt in den bosnischen Krieg eingreift. Die serbischen Truppen müßten in die Zange genommen werden — im Norden und Westen durch Kroatien, im Osten und in Zentralbosnien durch muslimische Verbände. Es ist offen, ob Zagreb bereit ist, militärisch so deutlich Partei zu ergreifen.

Aus Genf berichtet taz-Korrespondent Andreas Zumach, daß der bosnische Serbenführer Karadzic mit einem Rückzug vom Verhandlungstisch droht. In einem Schreiben an UN-Generalsekretär Butros Ghali drohte Karadzic außerdem mit der Aufkündigung der Ende August in London getroffenen Vereinbarungen. Gegenüber der taz begründete Karadzic sein Schreiben mit dem Vorschlag, eine militärflugfreie Zone über Bosnien-Herzegowina einzurichten. Dies würde „die strategische Lage zugunsten von Muslimen und Kroaten verändern“. Die Serben hätten „bereits zu viele unilaterale Zugeständnisse gemacht“.

Die beiden Vorsitzenden der Genfer Konferenz, Vance und Owen, halten einen Rückzug Karadzics für unklug. Er liege längerfristig auch nicht im Interesse der bosnischen Serben. Denn die Unterstützung Belgrads für Karadzic werde „immer geringer“ — sowohl bei dem restjugoslawischen Ministerpräsidenten Panic als auch bei dem serbischen Präsidenten Milosevic. Roland Hofwiler/azu