Neue Ordnung in Sachsens Frauenknast

Die Wende hinter Mauern/ Wie sich das einstige DDR-Frauengefängnis verändert hat/ „Mehr Platz für das Individuum“/ Ein Besuch in der Justizvollzugsanstalt Stollberg-Hoheneck  ■ Von Nana Brink

Zehn Türen führen von einer Welt in die andere. Acht von ihnen haben keinen Türknauf, sie schließen mit einem großen abgewetzten Eisenschlüssel. Nur die letzten beiden sind neu. Stahltüren mit funkelnden Sicherheitsschlüsseln. Zwischen der letzten Tür — abgeschabtes Holz mit schwerem Riegel — und der ersten liegen vielleicht zweihundert Meter Luftlinie. Sie trennen die Welten in Stollberg. Die eine der Welten in der kleinen erzgebirgischen Kreisstadt endet vor einer drei Meter hohen Betonmauer, auf deren oberem Ende Glasscherben sorgsam nebeneinandergesteckt liegen. Das Eisentor mit rotem Sirenenlicht hat kein Schloß. An der kleinen, fast unsichtbaren Tür im Tor steht: „Justizvollzugsanstalt Hoheneck— bitte klingeln“.

In der Burganlage verbarg sich das einzige Frauengefängnis der DDR. In den siebziger Jahren waren hier zeitweise 1.600 Frauen untergebracht, verurteilt wegen „Asozialität, Prostitution, bis hin zu Schwerverbrechen“. Aber auch „Verurteilte, die die DDR verlassen wollten bzw. mit anderen Handlungen dem Sozialismus Schaden zufügten“, erklärt die Broschüre, die eigens für die Presse schnell zurechtgeschrieben wurde. Auf vierzig Prozent schätzt der jetzige Direktor Uwe Hoecker— übrigens der neben seinem Görlitzer Kollegen einzige Ostler auf dem Posten — den Anteil der damals politisch Inhaftierten. Jetzt ist Stollberg das einzige Frauengefängnis Sachsens.

Der „Museums“-Knast Stollberg-Hoheneck

Wer westdeutsche Knäste kennt und nach Hoheneck kommt, versteht zumindest, warum gewisse Beamte des Justizministeriums zynisch von „Hotelvollzug“ reden und sagen, diese Anlage sei museumsreif. Auf den Resten des ehemaligen Schlosses, das sich der Sächsische Kurfürst August I. Mitte des 16. Jahrhunderts bauen ließ, entstand 1862 das Königlich Sächsische Weiberzuchthaus. Sowohl der Nord- wie der Westflügel der rechteckigen Anlage stammen aus dieser Zeit und dienen ohne wesentliche bauliche Veränderungen noch heute als Zellenunterkünfte. Die acht Türen trennen hingegen nicht nur die Welt zwischen „drinnen“ und „draußen“. Hoheneck ist eine Welt, die wie alle Gefängniswelten funktioniert und doch ganz anders ist, denn in Hoheneck ist die Zeit stehengeblieben.

Zelle und Bewohnerin: Frau B. und ihr Zimmer

Zwei Innenhöfe, acht Türen, ein verwinkeltes Gangsystem zwischen feuchten Mauern, und plötzlich steht man inmitten des Zellentraktes im backsteinroten Westflügel. Schmiedeeiserne Gitter umsäumen die Treppenaufgänge über drei Stockwerke, dazwischen sind grobmaschige Netze gespannt, als „Auffang-Einrichtung“ für Gegenstände wie „Selbstmörderinnen“. Morgens um sechs herrscht noch Ruhe in den schmutziggelb getünchten Zellenfluchten. Die hölzernen Zellentüren mit den verblaßten Namensschildern sind verschlossen. Um 6 Uhr 30 ist „Aufschluß-Zeit“. Die Wärterin eilt mit gewohnt festem Schritt, der die militärische Ausbildung ahnen läßt, durch die Flure. An ihrem Rock baumelt an der Kette ein einziger großer Schlüssel, der sowohl die Außentüren wie die Zellentüren schließt. Früher schrillte morgens um sechs das Wecksignal, und alle Gefangenen mußten nach Aufschluß vor die Zellentüren zum Appell antreten. Jetzt besuchen sich die Frauen zum Frühstück in ihren Zellen.

Momentan sind in Hoheneck lediglich 44 Frauen untergebracht, „betreut“, wie es im neuen Jargon heißt, von 109 Verwaltungs- und VollzugsbeamtInnen. Die Mehrzahl der Gefangenen sitzt auf Grund von Tötungsdelikten, über die Hälfte von ihnen verbüßt Haftstrafen zwischen fünf Jahren und lebenslänglich. Fast zwei Drittel sitzen bereits seit mehreren Jahren in der Burg. Nach dem neuen Belegungsplan des sächsischen Justizministeriums sollen in den alten Gemäuern insgesamt 299 Haftplätze — ausschließlich für Frauen— zur Verfügung stehen.

Frau B., Anfang fünfzig, lebt allein in ihrer 30 Quadratmeter großen Zelle, wo einst bis zu acht Doppelstockbetten standen. Sie lebt seit fünfzehn Jahren hier. Der Steinboden ist blankgeschrubbt, der gelbliche Putz an den Wänden von zahlreichen Klebestreifen für die Plakate fast ganz abgelöst. Mit aller Mühe hat Frau B. aus dem steinernen Raum „ihre“ Zelle gemacht. Zwei Plüschtiere auf dem Militärbett mit der selbstgehäkelten Tagesdecke, das Radio auf dem Stickdeckchen, die Deo- und die Haarsprayflasche neben dem bunten Plastikkamm wie das Allerheiligste um den Spiegel gruppiert. „Dem Individuum soll doch jetzt mehr Platz eingeräumt werden“, sagt der Anstaltsleiter. Es ist kühl am Frühstückstisch. Gleich neben dem Schrank — in Augenhöhe — eine Serie welliger Schwarzweißfotos rahmenlos an die Wand geklebt. Alle Bilder zeigen ein und denselben Mann und ein kleines Kind. Auf dem Tischchen darunter steht ein Bäumchen aus Draht und bunten Perlen, befestigt auf einem Stein— Frau B.s Hobby. Die Steine, erzählt sie, finde sie draußen beim Hofgang an der Mauer. Erzgebirgischer Schiefer.

Frau B. arbeitet in der Wäscherei, acht Stunden pro Tag für 200 Mark im Monat. Die Wäscherei, in einem der vielen Seitenflügeln untergebracht, ist momentan der Hauptarbeitsplatz für die Frauen, seitdem nach der Wende die lokalen Textilbetriebe ihre Außenstellen in Hoheneck dichtgemacht haben. Früher wurde in den Kellergewölben nicht nur die eigene Wäsche gewaschen. LKW-Ladungen mit Dreckwäsche aus Bautzen landeten hier. Sozialistische Arbeitsteilung im Knast: Die Frauen plätteten die Drillichhosen der männlichen Gefangenen.

Arbeit in der Wäscherei

Ein Schwall heißer Luft dringt aus der Tür und ein beißender Geruch von Chemikalien. Auf Drahtregalen, windschief an die feuchten Wände gelehnt, türmen sich akkurat gestapelte Bettwäsche und blaue Arbeitskittel. Neben den himmelblau verkratzten Waschmaschinen, die eher Betonmischmaschinen gleichen, liegt ein Haufen Waschpulver nebst Schaufel. Gurgelnd rinnt das Abwasser durch die abenteuerlich verbauten Rohrleitungen, die in regelmäßigen Abständen kleine rostige Pfützen auf dem Steinboden hinterlassen. Die Bügelmaschine, an der Frau B. arbeitet, ist ein sowjetisches Fabrikat aus der Nachkriegszeit. Eine halbe Stunde braucht sie, um die wuchtige Eisenplatte mittels eines Hebels immer wieder auf den Jeansrock zu legen, der exakt vier Falten haben soll.

Das Schwierigste sei, so betont Anstaltsleiter Höcker, eine „sinnvolle“ Arbeit zu finden und dies nicht nur, „weil das intellektuelle Niveau“ der Gefangenen doch meist recht niedrig sei. Das Arbeitsamt in Stollberg winke immer nur entnervt ab. Und das Justizministerium sei irgendwie nicht zuständig, erfuhr er in Dresden. An Aus- oder Weiterbildung könne man im Moment gar nicht denken, daß sei früher doch anders gewesen, als in Hoheneck noch die Textilkombinate billige Arbeitskräfte für später ranzogen. Jetzt sei man froh, wenn die „Frauen was zu tun haben“. Zum Beispiel Kabelbäume zusammenschweißen. „Unser kleiner Betrieb“ über der Wäscherei ist die verlängerte Werkbank eines Bayreuther Kabelherstellers. Seit Juli diesen Jahres verzinnen und fixieren 17 Frauen für Pfennigbeträge die Kabel, die später einmal in die Zentralverrieglung eines Mercedes eingebaut werden.

Vollzugspersonal: Von der NVA-Offizierin zur Sozialarbeiterin

Um 12 Uhr 15 ist Mittagspause, für dreißig Minuten. Es gibt das „Lieblingsgericht“: Spaghetti und Pudding. Ganze fünf Mark können die drei Köchinnen pro Frau und Tag ausgeben. „Italienisch“ kocht Margarete K. am liebsten, nicht nur, weil es gut ankommt und überdies billig ist, „ich kann eben endlich mal ein bißchen was ausprobieren“. Ihre Kochkunst findet großen Anklang, und als Beweis führt sie an, daß selbst das Vollzugspersonal bei ihr ißt. „Und zwar dasselbe wie die Gefangenen“.

Vom „Speisesaal“ der Gefangenen, einem zugigen, hellblau gekachelten Raum im Erdgeschoß mit wackligen Eisenstühlen, bis zum „Kulturhaus“ des Personals sind es nur ein paar Meter. Dazwischen liegen fünf Türen. Der holzverkleidete Bau mit einer durchgehenden Fensterfront steht direkt am äußeren Signalzaun, einen Steinwurf von den ehemaligen Hundezwingern entfernt. Um das Holzportal ranken sich üppig blühende Sträucher, die Beete rings um das „Kulturhaus“ sind sorgsam gepflegt, die Kieszufahrt fast wie gekämmt. Evi Goebel ißt ihre Spaghetti im großen Saal. Während sie ißt, erzählt sie von den Tanzvergnügen, die das Parkett häufig strapaziert haben, und auch von den Parteiveranstaltungen.

Evi Goebel verwaltet seit 17 Jahren den Schlüssel, der die acht Türen von Hoheneck nach Stollberg öffnet. Die grazile Fünfunddreißigjährige, Mutter von zwei Kindern, ist nach wie vor froh, hier zu arbeiten. „Ich gehöre doch zum Inventar.“ „Persönlich vorzuwerfen“ habe sich die ehemalige NVA-Offizierin nichts, wenn sie auch vor Angst in Wendezeiten die Haustür verrammelt habe, denn „man hat uns doch immer schief angesehen“. Sie sagt: „Ich habe nie jemanden geschlagen“ und die interne MfS-Dienststelle immer nur „auf Befehl“ gesehen. Als der Satz gefallen ist, fängt sie sichtlich gelöster an zu erzählen — von früher und wie sich alles und eigentlich doch nicht viel geändert hat. „Wir leben hier eben nicht in einem Sanatorium, sondern in einem Gefängnis.“ Aber der militärische Drill sei nun weg, weshalb natürlich auch „nicht mehr alles wie ein Uhrwerk funktioniert“. Froh ist sie, daß dieser „rechtlose Raum nach der Wende“ endlich ein Ende hat, daß es eine „neue Ordnung“ gibt. Auch wenn diese noch „nicht immer greife“.

Evi Goebel gibt sich sichtlich Mühe, „ihre neue Ordnung“ zu finden. Seit ein paar Monaten läßt sie sich zur Sozialarbeiterin ausbilden, betreut die Bewährungshelferinnen und hält den Draht zum Gefängnispfarrer. Obwohl mit der „Kirche nie was am Hut“, spricht sie mit großem Respekt von Pfarrer Escher, der die Freigängerinnen an „einige wenige Familien“ in der Gemeinde vermittelt. „Wir haben doch schon große Probleme, uns zurechtzufinden, aber die meisten Frauen hier fallen nach zig Jahren in eine total gewandelte Welt.“ Und niemand kümmere sich wirklich um sie. Dann preist Evi Goebel schon mal verhalten das „alte System“, da habe man doch wenigstens noch Psychologinnen gehabt, „aber jetzt haben wir noch nicht mal 'ne Krankenstation“.