»Ich hab' doch hier alles, was ich brauche«

■ Aufstand am Lebensabend: Seniorenheim-Bewohner wehren sich gegen ihre Umsiedlung

Tegel. Einfamilienhäuser und Ahornbäume säumen die Sterkrader Straße in Tegel-Süd, ein Supermarkt und eine katholische Kirche. Doch dann sieht man plötzlich beschriftete Bettlaken über dem herbstlich-bunten Blattwerk der Vorstadtidylle flattern. »Wir wollen bleiben« und »Wir sind alle eine große Familie« steht da schwarz auf weiß an den Balkonen eines achtstöckigen Gebäudes. Hinter den Mauern vermutet man eine muntere Besetzerszene. Tatsächlich aber sind die meisten der Bewohner über 80 Jahre alt und waren bislang legale Mieter des Seniorenheims Tegel-Süd.

Geht es nach dem Willen des Reinickendorfer Bezirksamtes, sind sie das nicht mehr lange. »Wir kämpfen dafür, daß wir hier bleiben können.« In diesem Punkt sind alle Heiminsassen einer Meinung. Im Eßraum wird gerade Kaffee und Kuchen serviert. Etwa 20 ältere Menschen sitzen etwas verloren vor der leeren Bühne am hinteren Ende des großen Raumes, an den Wänden hängen Schmetterlinge aus Papier, auf den Tischen liegen Decken mit Blümchenmuster. Vor 23 Jahren zogen die ersten Bewohner in den Neubau, der damals zum gehobenen Standard der Stadt zählte. 150 Betten, überwiegend Einzelzimmer, zudem gesellschaftlicher Anschluß durch die Lage des Hauses in einem Wohngebiet mit nahegelegenem Supermarkt — das hatte damals schon fast Modellcharakter.

Heute ist alles anders. Im Sommer dieses Jahres geisterte das Altenheim, mit Negativprädikaten wie »verwahrlost« oder »heruntergekommen« versehen, durch die Presse. Vor zwei Monaten erreichte die Senioren dann die Nachricht, daß ihr Haus in absehbarer Zeit geschlossen und sie selbst in vergleichbare Einrichtungen umgesiedelt werden sollten. Seitdem ist es um den lieben Frieden der alten Leute geschehen.

»Für uns war das ein richtiger Schock.« Herta Rosenberg, 81, wohnt seit dreieinhalb Jahren in der Sterkrader Straße. Die gelernte Hutmacherin mußte nach einem Krankenhausaufenthalt (»Der liebe Gott wollte mich damals noch nicht«) die Unabhängigkeit ihrer eigenen vier Wände gegen ein Zimmer in der Altenpension eintauschen. Inzwischen fühlt sie sich hier zu Hause: »Wir sind hier wie eine Familie. Ich will hier bleiben, solange ich noch meine Augen offen habe.«

Die Freude der alten Damen und vereinzelten Herren ist das Zusammenleben mit Menschen, mit denen sie im Lauf der Jahre Freundschaft geschlossen haben. Gegenseitige Unterstützung und Nächstenliebe sind hier keine leeren Floskeln, sondern alltägliche Lebenspraxis. Nicht ganz unschuldig an dieser positiven Entwicklung ist die Diplompädagogin Anne-Kathrin Wittneben, die »gute Seele« im Haus. Mit viel Gespür für die Nöte der Senioren hat die ABM-Kraft Gesprächskreise, Kartenspielabende und Ausflüge initiiert und damit erheblich zu einer guten Atmosphäre unter den Heimbewohnern beigetragen. »Eine Umstellung auf eine neue Umgebung, neue Nachbarn und ein anderes Personal bedeutet für die alten Menschen ein Streß, dem sie nicht mehr gewachsen sind«, sagt sie.

Streß haben die Heiminsassen bereits jetzt genügend. Unterschriftensammeln, Treffen mit Vertretern des Bezirksamtes und Gespräche mit der Presse sind für Menschen über 80 kein Pappenstiel. Wen wundert es da, wenn sich erste Spuren von Resignation bemerkbar machen.

Was zur Verbesserung der Lebensqualität älterer Mitbürger gut gemeint war, erweist sich als bürokratischer Pferdefuß gegen Mitmenschlichkeit und gewachsene Sozialstrukturen. »Es ist vor allem der mangelnde Sicherheitsstandard im Haus, der uns zum Handeln zwingt«, sagt Frau Wanjura (CDU), Gesundheitsstadträtin des Bezirks Reinickendorf. Fehlende Brandschutztüren und Rauchfühler sowie ein einziger veralteter Fahrstuhl seien bei Bewohnern mit oft hoher Pflegebedürftigkeit ein nicht mehr zu vertretendes Risiko. Zudem will sie einen humanen Umzug in größeren Bezugsgruppen mit eigenem Pflegepersonal garantieren.

Die Rentner aus Tegel-Süd betrachten solche Versprechen mit Skepsis. »Ich hab' hier doch alles, was ich brauche.« Frau Hentsch, mit ihren 100 Jahren die älteste Bewohnerin des Heims, weiß, was sie will. »Das Leben ist nicht immer wie auf Rosen. Aber man muß den Kopf oben behalten.« Jantje Hannover