■ Kommentar
: Leichtfertige Richter

Am 24. April hatte er den Vietnamesen Nguyen Van Tu nach einer Rangelei vor der Marzahner Kaufhalle mit seinem Butterflymesser erstochen, nun soll der 22jährige arbeitslose Ostberliner Mike L. viereinhalb Jahre Knast wegen Körperverletzung mit Todesfolge absitzen. Die Richter unter Vorsitz von Hartmut Füllgraf fällten gestern ein fragwürdiges und unbefriedigendes Urteil.

Wieviel Ausländerhaß gibt es in Marzahn? Wie kommt es, daß sogar schon kleine Mitläufer am Rande der rechten Szene Tötungsakte begehen? Wie ist es zu erklären, daß an die 50 Passanten bei der vorangegangenen Auseinandersetzung zusahen, ohne einzugreifen? Fragen, die ein um Aufklärung bemühtes Gericht hätte unbedingt ansprechen müssen, zumal es aus diesem Grund kaum unbeteiligte Zeugen fand. Die Fragen drängen sich geradezu auf in dieser Zeit der Anschläge und Pogrome. Und die Öffentlichkeit will wissen, wie mit solchen Leuten umzugehen ist. Die Moabiter Richter aber machten es sich skandalös einfach. Erstens gaben sie sich so gut wie keine Mühe, das politische Denken der Freundesclique von Mike L. auszuleuchten — entsprechende Fragen kamen fast nur von der Nebenklägervertreterin. Zweitens hängten sie, anders als auch der Verteidiger und alle anderen Prozeßbeteiligten, dem Opfer Mitschuld an den Ereignissen an: Der Vietnamese habe Mike T. »rechtswidrig angegriffen«. Drittens nahmen sie dem Angeklagten widerspruchslos ab, er habe nur was gegen Schmuggel, nichts aber gegen Ausländer, und unterstellten ihm in aller Nettigkeit sogar, er lebe mit jenen »friedlich zusammen«. Die seltsame Urteilsbegründung enthebt die Tat aus jedwedem politischen Zusammenhang und öffnet gerade dadurch dem nächsten Gewaltakt Tor und Tür.

Aber bitte keine Mißverständnisse: Eine mögliche andere Art der Aufarbeitung hat nichts mit einer harten Aburteilung des Angeklagten zu tun. Denn: Dieser ist eben kein Neonazi. Jahrelange Haft in der gewalttätigen Männerhierarchie im Knast könnte ihn jedoch ziemlich leicht dazu machen. Die Nebenklägervertreterin war in ihrem Plädoyer ehrlich genug, deshalb kein Strafmaß zu fordern: Sie wisse zu genau, was die Haft mit den Menschen anstelle. Ute Scheub

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