■ Ein identitätsstiftender Feiertag für Spanien
: Hispanität — ein Gespenst verblaßt

Von allen spanischen Feiertagen ist der heutige sicher der zwiespältigste. „Tag der Hispanität“ heißt er, was das Wörterbuch mit „Gemeinschaft der hispanischen Völker“ übersetzt, ohne genauer auszuführen, welche Völker damit gemeint sind. Seit Franco ihn zum Feiertag erhob, wird er am 12. Oktober begangen, jenem Tag, an dem Christoph Kolumbus auf seiner Suche nach Indien zum ersten Mal seinen Fuß auf festen Boden setzte. Das ist genau 500 Jahre her und fällt dieses Jahr mit dem Ende der Weltausstellung in Sevilla zusammen.

Der Begriff Hispanität entstand Anfang dieses Jahrhunderts, als es längst vorbei war mit Spaniens Weltmacht und die meisten der damals eroberten Länder Amerikas die Unabhängigkeit erlangt hatten. Er meinte eine nebulöse Gemeinschaft der Eroberer mit den Unterworfenen. Vor allem jedoch wurden durch ihn die vermeintlichen Tugenden jener Bande von Haudegen, die in Amerika eingefallen waren, zu einem Ideal stilisiert. Der Verlust dieser Tugenden konnte für das Ende der spanischen Vorherrschaft in der Welt verantwortlich gemacht werden. Dennoch verfolgte der Appell an die Hispanität nicht das utopische Ziel, das Zeitalter spanischen Herrentums zurückzubringen. Der Rückruf vermeintlicher historischer Tugenden wie Abenteurertum, Mut und militanter Katholizismus ins kollektive Gedächtnis taugte jedoch als ideologisches Bollwerk gegen Modernisierungsbewegungen. Kein Wunder, daß Diktator Franco die Hispanität zu einem Schlüsselbegriff seines ideologischen Repertoires machte und sie zum Feiertag erhob, obwohl selbst der Führer des „ewigen Spanien“ die Zukunft seines Landes keineswegs in einer Symbiose mit den ehemaligen Kolonien sah.

Die Ausrichtung Spaniens auf Europa, die zu des Caudillo Zeiten trotz entgegengesetzter Rhetorik ihren Anfang nahm — am deutlichsten sichtbar in der Bedeutung, die den Einnahmen aus dem Tourismus in der spanischen Wirtschaft zukam —, wurde nach dessen Tod erheblich beschleunigt. Statt „Spanien ist anders“ hieß das Motto nun: „Auch Spanier sind Europäer“. Die Zugehörigkeit zum europäischen Kontinent wurde alsbald durch den Beitritt des Landes zur EG und zur Nato besiegelt. Als Mitgift brachte Spanien seine privilegierten Beziehungen zu Lateinamerika ein. Denn obwohl das ehemalige Mutterland seine Rolle aus Ausbeuter und Züchtiger eingebüßt hatte, war und ist es noch immer erste Anlaufstelle, erster Vermittler zwischen der neuen Welt und Europa. Die herrschenden Eliten der meisten lateinamerikanischen Länder stammen von Spaniern ab und richten sich an Europa aus. Eine gemeinsame Sprache und Religion erleichtert die Kommunikation. Die barbarische Missionierungsarbeit von Dominikanern und Jesuiten in der Neuen Welt führt nach 500 Jahren paradoxerweise zu einer Affinität zwischen Eroberern und den Eroberten. So machen Politiker aus Lateinamerika auf einer Europareise immer zuerst in Madrid Station. Spanien hat von allen europäischen Ländern mit Abstand den regesten Handel mit Lateinamerika. Lateinamerikanische Intellektuelle finden auf dem spanischen Büchermarkt und in den Zeitungen ein Forum. Selbst die Immigranten profitieren von der vermeintlichen hispanischen Gemeinschaft: Zwar sind im Lauf der vergangenen Jahre die Einwanderungsbedingungen für Lateinamerikaner verschärft worden. Doch sind sie immerhin Ausländer zweiter Klasse: Hinter den Europäern, aber weit vor Marokkanern und Schwarzafrikanern.

Seine Rolle als Brückenpfeiler zwischen Neuer und Alter Welt hat Spanien in mehrerer Hinsicht Vorteile verschafft: Zum einen verhilft es dem geographisch abgelegenen und wirtschaftlich zurückgebliebenen Land zu politischer Bedeutung innerhalb der EG. Zum anderen hat die enge intellektuelle und politische Verbindung des Kontinents mit dem alten Mutterland eine harte Auseinandersetzung über die Hinterlassenschaften des Kolonialismus verhindert. Spanische Intellektuelle wurden nicht gezwungen, sich mit dem eigenen Land vor dem Hintergrund der Entdeckung Amerikas kritisch auseinanderzusetzen. Dies wird vor allem in diesem Jahr deutlich, in dem sich das „Jubiläum“ zum 500. Mal jährt. „Begegnung zweier Welten“ hieß das Motto, unter dem zahlreiche Konferenzen, Konzerte, Ausstellungen und Aufführungen stattfanden. Die wenigen Gegenkongresse einiger in- und ausländischer Querulanten, die diesen Begriff nicht angemessen fanden und ein neues Verhältnis Spaniens zu den Ländern Lateinamerikas auf gleichberechtigter Ebene forderten, stießen auf nur wenig Gehör. Auch der Buchmarkt legt von diesem ruhigen kollektiven Gewissen beredtes Zeugnis ab: Eine Flut von Veröffentlichungen ist zum Thema erschienen, von vielbändigen Biographien der Eroberer über Traktate zur Geschichte der Seefahrt bis hin zu Abhandlungen über das Liebesleben der spanischen Könige, immerhin Kolumbussens Auftraggeber. Hingegen fehlt fast völlig eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen nationalen Identität vor dem Hintergrund der barbarischen Eroberungszüge. Was wäre passiert, wenn Kolumbus vor 500 Jahren Kuba verfehlt hätte und resigniert umgekehrt wäre? Wie sähe ein Spanien aus, das mangels des amerikanischen Goldes keine Eroberungszüge in Europa hätte führen können? Die kritischen Fragen, die gestellt wurden — etwa in einer Serie der Tageszeitung El Pais zum Thema —, stammen großteils von lateinamerikanischen Autoren.

Der Madrider Soziologieprofessor Alberto Moncada erklärt diese Absenz mit dem Mangel an Interesse an der eigenen Geschichte. „Was heute zählt, ist Europa“, lautet seine These, „und insofern ist der Rest unerheblich.“ Konsequenterweise führt dieser Mangel an Reflexion dazu, daß in breiten Teilen der Bevölkerung die Kolonialgeschichte als positiv wahrgenommen wird. Spanien als großer Bruder für Lateinamerika und kleiner Bruder in der EG — so könnte man das vorherrschende Gefühl wohl zusammenfassen.

Hundertfach wurde im Lauf dieses symbolträchtigen Jahres an die Hispanität appelliert, besonders laut auf dem iberoamerikanischen Gipfel, der im Juli in Madrid stattfand, und auch heute in Sevilla, wo unweit vom Ort, von dem sich Kolumbus in Richtung Indien einschiffte, bis heute die Weltausstellung zelebriert wurde, die Fiktion eines Überblicks über das Neueste der Welt, in Erinnerung an das Neue, das damals entdeckt wurde. Doch hier ist es wie mit Maastricht: Je häufiger ein Begriff bemüht wird, desto inhaltsleerer ist er meist. Spanien fühlt sich offenbar wohler als kleiner Bruder in der EG denn als großer jenseits des Atlantiks. Kostengünstiger ist es allemal. Antje Bauer, Madrid