Ein Symbol - aber wofür?

Christof Nels Inszenierung von Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ in Alfred Hrdlickas Bühnenbild  ■ Von Thierry Chervel

Schön ist die Fahne, die der dichtgedrängte Chor dort im Bühnenhintergrund entfaltet, weich und schwer fällt sie. Und das strotzende, künstlerisch gewählte Rot! Ein klein bißchen abgedunkelt, so wie das berühmte Rot der Ferraris. Warmes Spätlicht löst die Szenerie als Breitwandtableau aus der Schwärze der umgebenden Bühne— ein Fresko, Abglanz aus einer jüngst vergangenen Epoche oder doch Vision? „Poltert auf Plätze den Marsch der Empörung/ Hoch stolzer Häupter wogendes Feld!/ Wie einer zweiten Sintflut Verheerung/ Waschen wir wieder die Städte der Welt“, singt — nach Majakowski — der Chor revolutionär gestimmter Algerier und Flüchtlinge, umtost von Streichern und Bläsern, Harfe und Celesta und einem Riesenschlagzeug.

Dann geht in der Stuttgarter Inszenierung das Licht aus. Der erste Teil der „Handlung“ ist beendet, Applaus. Als das Saallicht eingeschaltet wird, hat sich der Chor schon in die Pause verabschiedet, die rote Fahne liegt auf dem Bühnenboden. Ein Symbol. Aber wofür?

„Intolleranza 1960“ handelt vom Leidensweg eines italienischen Wanderarbeiters und vom Erwachen seines politischen Bewußtseins. Es ist Luigi Nonos erstes Bühnenwerk, eine azione scenica in zwei Teilen, die in aufklärender Absicht an die damalige politische Aktualität anknüpft: ein Grubenunglück in Belgien; Algerien; die atomare Gefahr. Daher die Jahreszahl im Titel. Uraufgeführt wurde das Stück 1961 bei der Kunstbiennale von Venedig.

Luigi Nono wollte mit „Intolleranza 1960“ ein „Theater des Kampfes“ und der Ideen inaugurieren. Das Drama sollte sich in „Situationen“ entwickeln, in denen „Gegensatz und Zusammenstoß ideologischer Art weder auf subtile Psychologismen von Neurotikern oder Literaten noch auf die Schematik des ,sozialistischen Realismus‘ reduziert“ sind. Die Handlung der „Intolleranza“ ist rudimentär, verglichen mit dem musikalischen und technischen Aufwand, den das Stück treibt.

Sieben Stationen hat der Leidensweg des Flüchtlings: 1. Der Wanderarbeiter verläßt ein belgisches Bergwerk, in dem zuvor ein Unglück stattgefunden hat, und läßt seine Frau im Stich. 2. Er gerät in eine Demonstration. 3. Festnahme, Verhör, Folter. 4. KZ. 5. Flucht, dann Erwachen des politischen Bewußtseins im algerischen Befreiungskampf: „Durch Zufall geriet ich in den Kampf der Menschen heute... Das Verlangen nach meiner Heimat verwandelt sich in den Wunsch nach Freiheit“ (Majakowski-Marsch und Ende des ersten Teils). 6. Begegnung mit einer Gefährtin. 7. Ankunft am Po, jenseits dessen die „Heimat“ des Arbeiters liegt. Eine Überschwemmungskatastrophe ist angekündigt, gegen die die „Regierung“ keine Maßnahmen getroffen hat. Der Arbeiter und seine Gefährtin beschließen, nicht mehr weiter zu fliehen: „Hier muß man bleiben, hier alles verändern.“ Sie gehen unter. Den Epilog singt ein vom Tonband eingespielter Chor mit einer Strophe aus Brechts „Gedicht an die Nachgeborenen“: „Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut, in der wir untergegangen sind... Gedenkt unsrer mit Nachsicht.“

Wie inszeniert man so was heute?

Parallelen liegen ja auf der Hand. Wirtschaftsflüchtlinge haben es bekanntlich auch heute nicht leicht. Man habe Hoyerswerda und Rostock bei der Planung der Aufführung nicht voraussehen können, sagt Dramaturg Klaus Zehelein in der Einführungsveranstaltung zur Premiere, aber eine platte Aktualisierung des Stücks habe man sich ohnehin von vornherein versagt. Vornehme Zurückhaltung, die in eklatantem Widerspruch steht zu Nonos Willen, mit seiner Musik auch direkt politisch einzugreifen. Allerdings verbietet sich eine Aktualisierung des Stücks geradezu. Bei Nono gibt es kein Volk, das — gerade aus vierzig Jahren verwirklichtem Sozialismus entlassen — flagranten Mordversuchen applaudiert. Bei Nono ist das Volk noch ein revolutionäres Subjekt, das den Flüchtling politisches Bewußtsein lehrt.

Was hat man also dann gemacht, da man das Stück gar nicht aktualisieren konnte? Hat man es in seinen historischen Zusammenhang gestellt als einen Versuch der Aufklärung, der die Gegenaufklärung allerdings schon in sich trug, weil er nur Algerien sah, nicht aber Ungarn und den Gulag? Hat man die ideologische Verblendung vieler Intellektueller dieses Jahrhunderts reflektiert, aus der dennoch große Kunstwerke entstehen konnten?

Um es vorweg zu sagen: Es war ein glanzvoller Abend. Ein Lob, das die Fähigkeiten des wortgewandtesten Kritikers übersteigt, verdient der Chor, der sich als eigentlicher Protagonist der „Intolleranza“ auf dem schwindelerregenden technischen Niveau der Musik souverän bewegte. Gleiches gilt fürs Orchester unter Bernhard Kontarsky, auch wenn die Blechbläser die Streicher in den Klangballungen ein wenig zu sehr zu überstrahlen schienen. Selten hat man eine Altstimme gehört, die so gerade und volltönend den doch ziemlich dicht besetzten Orchestergraben überwand, wie die von Kathryn Harries als (erste) Frau des Flüchtlings. Ursula Koszut als seine Gefährtin war ebenso sicher, aber in den Höhen nicht immer ganz beherrscht. Etwas überanstrengt wirkte allein David Rampy in der extrem hoch angelegten Tenorpartie des Flüchtlings. Es ist zu hoffen, daß „Intolleranza 1960“ in der Stuttgarter Besetzung unter Kontarsky, der gerade für seine Einspielung von Zimmermanns „Soldaten“ den deutschen Schallplattenpreis bekommen hat, auf Schallplatte aufgenommen wird. Bisher ist noch keine Aufnahme des Werks im Handel.

Auch Alfred Hrdlickas Bühnenbild: beeindruckend. Er setzt einen zusätzlichen schwarzen Guckkasten auf die Bühne. Zwei, nein dreifach ist sein Bild eingerahmt — durch den architektonischen Bühnenrahmen, durch zwei weiße Stoff- oder Papierbanderolen, die ihn links und rechts flankieren und durch die Wände des schwarzen, nur zum Publikum sichtlich offenen Kubus, den Hrdlicka da hingestellt hat. Zusätzlich steigt der ebenfalls schwarze Bühnenboden nach hinten an. Bühnenbildwechsel bewerkstelligt Hrdlicka durch von oben oder unten in den Spielraum gezogene Transparente mit Gemälden oder Schriften. Zur Hand geht ihm außerdem Karl-Rüdiger Wogatzkes absolut virtuose Lichtgestaltung.

Wie gesagt: beeindruckend. Schwarz und weiß, ernst und klar wie der Anzug eines Bestattungsunternehmers. Und prekär. Die Frage ist, warum Hrdlicka den Guckkasten so doppelt und dreifach akzentuiert und durch den steigenden Boden fast noch ins Zweidimensionale — also Projektive, Plakative — aufheben zu wollen scheint. Nonos eigene Vorstellungen zielten in die entgegengesetzte Richtung. Er wollte die Trennung zwischen Bühne und Publikum überwinden — „das entscheidende Bedürfnis: Kommunikation“, schrieb er einmal.

Bezweckt Hrdlicka mit der Betonung des Rahmens so etwas wie eine Distanzierung im Brechtschen Sinne? Es hat eher etwas von Entrückung. Diese Bühne setzt Christof Nels Regie enge definitorische Grenzen. Es wird wirklich eine „Handlung“ draus, allerdings eher im religiös-rituellen Sinne, gestisch und symbolhaft, aber keine „szenische Aktion“. Auch die Bilder, die Hrdlicka da hoch- und runterfährt, durchbrechen das strenge Gefüge nicht. Sie zeigen geschundene Kreatur, berichten von einer Zeitlosigkeit menschlichen Leidens. Kein Wunder, daß so häufig christliche Motive auftauchen — stigmatisierte Bergarbeiterhände, Jesus nach der Abnahme vom Kreuz.

Es ist ein Versuch, das Stück vor seiner historischen und ideologischen Bedingtheit zu retten, indem man auf die immerwährende Aktualität seines Anliegens hinweist— falsche Abstraktion, Musealisierung, Zelebration. Niemand erhielt übrigens lautere Bravos nach dem Ende der Vorstellung als Hrdlicka für sein Bühnenbild. Zum Dank reckte der große Bildhauer die Faust.

Zehelein erwähnt im — übrigens sehr instruktiven — Programmheft einen tiefsinnigen Widerspruch in Nonos Stück. Die Musik zum triumphalen Majakowski-Marsch kehrt im zweiten Teil noch einmal wieder, im Zusammenhang der Überschwemmungskatastrophe. Der Text des Chors lautet nun allerdings: „Wir sind überlassen der Gewalt des Wassers.“ Als Künstler war Nono gebrochener, intelligenter also, denn als Ideologe. Aber die Inszenierung macht diesen Widerspruch zwischen Kunst und Ideologie nicht fruchtbar, durch den allein das Werk so aktuell ist, und setzt sich damit dem Verdacht aus, in Ideologie zurückzufallen. Es ist wunderbar, daß in Stuttgart überhaupt eine Nono-Aufführung möglich war. Aber das „Theater des Kampfes und der Ideen“ sinkt darin zum Stadttheater herab, wenn auch auf höchstem Niveau.

Auch Heiner Müller nutzt seine Chance zur historischen Reflexion nicht wirklich: Er durfte an einer Stelle, die Nono gewissermaßen für inszenierungsaktuelle Texte über die „Absurditäten des heutigen Lebens“ freiließ, eine unendlich müde Variation des Sisyphos- Motivs verfassen und durch Lautsprecher aufsagen. Immerhin kommt Müller doch aus einer Region Deutschlands, in der gerade die Skelette von Widerstandskämpfern ausgegraben werden, die erst nach 45 in Bautzen verscharrt wurden. Es sind die Opfer der von Majakowski beschworenen Sintflut.

Müller und Hrdlicka seien wie einst Nono „leidenschaftliche dialektische Sozialisten“, sagte Hans Mayer zur Eröffnung der Hrdlicka-Ausstellung mit „Intolleranza“-Bildern und -Plastiken, die im Foyer des Stuttgarter Theaters zu besichtigen ist. Dialektische Sozialisten: ein Glück! Dann werden sie wohl nicht mit der heute so verwaisten roten Fahne in der Hand zur Revolution schreiten wollen.

„Intolleranza 1960“, Azione scenica in zwei Teilen von Luigi Nono nach einer Idee von Angelo Maria Ripellino. Musikalische Leitung: Bernhard Kontarsky, Inszenierung: Christof Nel, Bühnenbild: Alfred Hrdlicka, Kostüme: Gisela Storch, mit David Rampy, Urzula Koszut, Kathryn Harries u. a., Staatstheater Stuttgart.