„Wenn die Demokratie uns kein Brot bringt...“

Seit dem Ende des Bürgerkrieges hoffen die meisten Libanesen vergeblich auf einen Wiederaufbau ihres Landes/ Mißtrauen gegen die eigenen Politiker/ Die erwartete Hilfe der Golfstaaten blieb aus  ■ Aus Beirut Khalil Abied

„Sie wollen den Präsidenten sprechen? Ich führe Sie zu ihm.“ Der ausgemergelte Junge ist vielleicht acht Jahre alt, seine Kleidung und seine Haut sind von einer graubraunen Schmutzschicht bedeckt. Er führt mich durch ruinengesäumte Straßen, zur Abkürzung manchmal auch mitten durch ein zerstörtes Gebäude. Beirut nach dem Bürgerkrieg. Schließlich kommen wir in ein hügeliges Gebiet, in dem es zum Himmel stinkt. Denn die Berge bestehen aus Müll. „Dort ist der Präsident“, sagt mein Fremdenführer und rennt weg.

Ein sonnenverbrannter junger Mann in Shorts und Plastiksandalen kommt auf mich zu. Er begrüßt mich freundlich und scheint schon zu wissen, was ich von ihm will. „Sehen Sie dieses Wohnviertel da drüben“, beginnt er ohne Umschweife, „dort leben tausende von Menschen, die hier auf den Müllbergen ihr Brot verdienen.“ Sie waren es auch, die ihm seinen Titel „Präsident der Müllrepublik im Westbeiruter Normandi-Viertel“ verliehen haben. Diese Teilrepublik ist nicht die einzige im Libanon, aber wahrscheinlich die größte. Der „Präsident“ ist für die Einteilung der Arbeit zuständig, die von den „Republikangehörigen“ ausgeführt wird. Sie sortieren den Müll, trennen Glasabfälle von Plastik und Metall. „Einige Firmen kaufen den sortierten Müll. So bekommen die Arbeiter ihr Geld“, erläutert „der Präsident“.

„Gott sei Dank sind die reichen Leute dumm“, mischt sich Um Mohammad in unser Gespräch ein. Sie arbeitet täglich acht bis zehn Stunden hier, um abends mit 5.000 libanesischen Pfund, umgerechnet knapp zwei Dollar, nach Hause zu gehen. Sie ist Witwe und Mutter von vier Kindern, eine der vielen Frauen, die hier durch ihre Arbeit das Überleben der Familie sichern. „Die Reichen schmeißen vieles in den Müll, was man zum Leben braucht. Kleider, Schuhe oder Möbel für die Wohnung. Manchmal bekommen wir auch etwas zum essen von ihnen. Den Leuten hier ist es ein Fest, wenn die Luxushotels Essensreste wegwerfen, oder wenn die großen Supermärkte verdorbene Ware loswerden wollen. Zwar sind die Sachen oft verschimmelt, aber man kann sie waschen oder abkochen. Das ist unsere einzige Chance, manchmal Fleisch, Gemüse oder Obst zu essen. Und es ist in jedem Fall besser als nichts.“ Um Mohammads Mann wurde vor fünf Jahren tot auf der Straße gefunden. Wer ihn umgebracht hat? „Niemand weiß es. Gott wollte es so. So etwas passiert oft im Libanon.“ Seither ist Um Mohammad Mitglied der „Müllrepublik im Westbeiruter Normandi-Viertel“. Ihr Sohn hat gerade die Schule verlassen, um mit ihr in den Müllbergen zu arbeiten. „Er ist sechzehn, und er wollte jetzt auch Verantwortung für die Familie übernehmen“, erklärt Um Mohammad. „Wir kommen jeden Morgen um sechs hierher, schließlich ist die Konkurrenz groß.“

Das Normandi-Viertel in Ostbeirut gehörte bis zum Beginn des Bürgerkrieges 1975 mit seinen zahlreichen Luxushotels, Nachtclubs, Restaurants und Villen zu den reichsten Vierteln der libanesischen Hauptstadt. Im Krieg wurde es zerstört. Früher wohnten hier vor allem wohlhabende sunnitische Moslems, aber auch Christen und Juden. Sie sind alle fortgegangen. Die Juden sind in die USA oder nach Israel ausgewandert, auch viele Christen und sunnitische Moslems gingen ins Ausland, andere zogen in weniger umkämpfte Viertel. Heute gehört das Normandi-Viertel zum „Armengürtel“ Beiruts. Seine Bewohner sind jetzt überwiegend arme Schiiten, die im Krieg aus ihren früheren Wohnorten vertrieben wurden oder vor den israelischen Angriffen im Südlibanon geflohen sind. Manche kamen auch einfach, weil es ihnen im großstädtischen Slum immer noch besser geht als in einem libanesischen Dorf.

Die Geschichten der Bewohner gleichen sich. „Mein Vater kam schon vor dreißig Jahren nach Beirut“, erzählt ein junger Mann im Viertel. „Warum? Weil es in unserem Dorf nichts gab. Keine Schule, keine Arbeit.“ Die Familie fand eine Wohnung in einem kleinen moslemischen Viertel im mehrheitlich christlichen Ostbeirut. Der Vater arbeitete als Müllkutscher. „Während des Bürgerkrieges waren wir von den christlichen Milizen umzingelt. Sie eroberten unser Viertel, viele wurden massakriert, die Überlebenden wurden vertrieben. Die Christen wollten ein ,schiitenreines‘ Ostbeirut. Sie machten unser Viertel dem Erdboden gleich. Meine Familie ging zurück aufs Land. Nur ich bin hier geblieben, weil ich in dieser Zeit der ,Amal‘ beigetreten bin. Nur sie hat die Rechte der Schiiten verteidigt, die im Libanon von allen verachtet werden und zu den Ärmsten der Armen gehören. Seit drei Jahren trage ich nun schon keine Waffe mehr, aber ich bin sofort bereit, wieder zu kämpfen, wenn jemand unsere Würde angreift.“

Solche wie ihn gibt es auch in allen anderen Konfessionsgruppen des Libanon — bei den Christen, den Sunniten, den Drusen. Alle haben sie ihre Motive und ihre Argumente. Alle hatten sie ihre Gründe, im Bürgerkrieg gegeneinander anzutreten. Die Christen suchten ihre historische Vormachtstellung zu halten, die Moslems warfen ihnen vor, die Schlüsselpositionen des Landes zu besetzen. Doch die Rivalität um Macht und Einfluß im Nahen Osten ließ auch die Großmächte und vor allem die Nachbarstaaten des Libanon offen und verdeckt in den Krieg eingreifen. „Syrien, Israel, die USA, der Irak, der Iran, Libyen und die PLO — alle haben sie mitgemacht“, sagt ein libanesischer Journalist, „jede dieser Mächte hat eine der Fraktionen im libanesischen Bürgerkrieg mit Geld und Waffen unterstützt; je nach ihren jeweiligen Interessen haben sie Gruppierungen auch plötzlich fallengelassen, um andere zu unterstützen.“

Doch der libanesische Bürgerkrieg hatte auch andere, weniger deutliche Fronten. Sie verliefen quer durch die verschiedenen Gruppierungen. Vor allem der Kampf um die Kontrolle über das islamische West-Beirut führte zu endlosen Kleinkriegen zwischen den Moslems selbst. Zuerst kämpften Schiiten gegen Sunniten, später Sunniten gegen Drusen und schließlich Drusen gegen Schiiten. Das Resultat waren noch mehr Tote und noch mehr Zerstörung in der libanesischen Hauptstadt.

„Zu Beginn des Bürgerkrieges 1975 waren alle islamischen Viertel unter Kontrolle der ,Nationalen Bewegung‘, einer Allianz linker, liberaler, panarabischer und säkularer Parteien, und sie wurde auch von vielen Christen unterstützt. Wir waren dem Sieg ganz nahe“, erinnert sich wehmütig ein libanesischer Schriftsteller. „Wegen der Einmischung anderer Regierungen, vor allem der Israelis und der Syrer, ist diese demokratische Bewegung gescheitert. In vielen arabischen Staaten herrschen totalitäre Systeme, und für die dortigen Machthaber ist Demokratie wie ein Virus, gegen dessen Ausbreitung man das eigene System schützen muß. Und für Israel ist vor allem ein säkularer Staat im Nahen Osten ein Problem, denn sie haben einen jüdischen Staat. Darum durfte der Libanon nicht auf die Beine kommen. Erst nach der Niederlage der säkularen Kräfte sind die religiösen Sekten zur identitätstiftenden Kraft für die meisten Libanesen geworden.“

Die libanesische Gesellschaft hat dafür einen hohen Preis bezahlt. Nach Angaben internationaler Organisationen wurden rund 200.000 Menschen im Bürgerkrieg getötet, 100.000 Menschen sind behindert, 500.000 Menschen, vor allem die Wohlhabenden, Gebildeten und Qualifizierten, haben das Land verlassen. 750.000 Menschen wurden Flüchtlinge im eigenen Land.

„Bitte, ich bin schließlich schon zwölf“, mit dieser Begründung bestellt ein gut gekleideter Junge in einem Nachtclub seinen Whisky. Der Kellner verbeugt sich höflich, um den Wunsch des jungen Kunden zu erfüllen. Gleich beginnt die „Show“, die Kellner eilen mit vollen Tabletts von Tisch zu Tisch. Sekt an den Nebentisch, Saft für die verschleierte Dame, Wein für die Gruppe von Frauen dort hinten, deren Bekleidung so leicht ist, daß sie in einer Streichholzschachtel Platz finden würde. Alle Frauen tragen schweren Goldschmuck, die Männer teure Maßanzüge. Die Band beginnt zu spielen, die Tanzfläche füllt sich. Korrupte Staatsbeamte und hohe Politiker treffen sich hier mit ihren Geschäftspartnern aus der „freien Wirtschaft“. Viele sind Neureiche — ihre ersten Millionen haben sie im Bürgerkrieg verdient: im Waffen- und Drogenhandel und durch andere Schwarzmarktgeschäfte.

In diesem Viertel ist vom Krieg nichts mehr zu sehen. Die Straßen sind breit und reinlich, vor den luxuriösen Villen stehen die neuesten Luxuslimousinen. Jedes Haus hat seinen eigenen Brunnen, und Generatoren kompensieren die häufigen Stromausfälle. Und überall wird gebaut, anders als in den Beiruter Armenvierteln, wo gerade mal die Trümmer aus dem Weg geräumt wurden. Viel mehr ist dort nicht passiert.

Als vor drei Jahren im saudischen Taif das Friedensabkommen zwischen den Bürgerkriegsparteien geschlossen wurde, träumten auch die Libanesen in den Armenvierteln von einem Wiederaufbau. Sie dachten, aus den Golfstaaten würde nun reichlich Wirtschaftshilfe auf sie niederregnen. Nichts dergleichen geschah.

Warum es keine Wirtschaftshilfe der reichen arabischen ,Bruderstaaten‘ gibt? Issam Garade, ein libanesischer Wirtschaftsexperte, muß nicht lange überlegen: „Ganz einfach“, sagt er, „sie haben andere Prioritäten. Vor allem der Golfkrieg hat sie viel Geld gekostet, und jetzt ist es der Wiederaufbau von Kuwait. Und vom Westen ist nichts zu erwarten.“ Er hält einen Moment inne. „Natürlich liegen die Gründe zum Teil auch im Libanon selbst. Es ist ein fehlerhafter Kreislauf: Die paar Staaten, die uns unterstützen würden, schrecken vor unserem korrupten Staatsapparat zurück. Solange der Staatsapparat nicht funktioniert, können wir die Infrastruktur nicht rekonstruieren. Aber ohne Infrastruktur wird niemand private Investitionen tätigen, auch nicht die reichen Libanesen, die ihr Kapital jetzt im Ausland angelegt haben.“

Nach offiziellen Angaben erhält der libanesische Staat derzeit gerade 30 Prozent der Steuereinnahmen, der Rest wird entweder nicht bezahlt oder geht in die Taschen korrupter Staatsbeamter. Also wird Geld gedruckt. Die Inflation steigt. Nabil Baihum, Politikwissenschaftler an der Beiruter Universität, sieht auch politische Gründe für die Zurückhaltung der reichen Libanesen, ihr ins Ausland transferiertes Kapital nun wieder im Libanon zu investieren. „Sie sind in der Mehrzahl Christen, und sie haben den Bürgerkrieg politisch verloren. Solange Syrien den Libanon kontrolliert, werden sie ihr Kapital, insgesamt schätzungsweise zehn Milliarden Dollar, hier nicht investieren.“

Die Regierung in Damaskus argumentiert, daß sie ihre Truppen solange nicht abziehen wird, wie Israel den Südlibanon besetzt hält. Die israelische Regierung argumentiert umgekehrt. So geht es bereits seit 17 Jahren, und so wird es weitergehen, solange es keine libanesische Regierung gibt, die von einer Mehrheit der Libanesen unterstützt wird. Immer wieder hört man Leute sagen, daß die einzige Alternative zur korrupten Politikerkaste die Armee ist. Ein Mitglied der Müllrepublik formuliert es so: „Wenn die Demokratie uns kein Brot bringt, wozu brauchen wir sie dann?“