Sonderleitung zum Weltgewissen

Günter Grass und der deutsche Nationalismus  ■ Von Richard Herzinger

Seit der deutschen Vereinigung scheint Günter Grass seine Rolle als Gewissen der Nation ausgespielt zu haben. Mehr noch als seine Warnung vor der Einheit selbst bot der moralische Tonfall, in dem sie vorgetragen wurde, alten und neuen Gegnern einen idealen Anlaß, das Denkmal mit Hohn und Spott vom Sockel zu stürzen. „Auschwitz“ als Argument gegen einen deutschen Nationalstaat heranzuziehen, war nicht nur historisch unschlüssig.

Seit der „Blechtrommel“ hatte Grass als ein Autor gegolten, dessen Erinnern an die deutschen Verbrechen ebenso beharrlich wie präzise abwägend war. Nun aber beschwor er Auschwitz, um seinen Standpunkt in einer politischen Streitfrage zu einer moralisch absoluten Position zu stilisieren: ein Akt politischer Rhetorik. Unfreiwillig demonstrierte er damit zugleich, wie wirkungslos die Anrufung von Auschwitz mittlerweile geworden ist.

Im Feuilletonstreit um Christa Wolf wiederum verstieg sich Grass dazu, von einer „Hinrichtung“ zu sprechen, die von „Schnellrichtern“ verfügt worden sei — gemeint waren, man erinnert sich, Literaturkritiker. Deren „Abrechnung“ mit der DDR-Kultur sei nur ein „Vorgeschmack“ auf den „Auftritt der westlichen Kolonialherren“ gewesen. In der Einheit konnte Grass nur eine im Grunde reaktionäre Verschwörung erkennen. In seinen öffentlichen Stellungnahmen zum Vorgang der deutschen Einigung wirkte er zunehmend wie ein Patriarch, der seinen Einfluß schwinden sieht und den Lauf der Dinge mit immer unmäßigeren Donnerworten aufzuhalten sucht.

Ursache dieser Selbstdemontage war gewiß nicht die Sympathie des Autors für den realen Sozialismus. Seine Grundsatzkritik am linken Totalitarismus war eindeutig, sein Einsatz für Menschenrechte auch im Osten konsequent. War er angesichts der sich überstürzenden Ereignisse schlicht „intellektuell überfordert“, wie Karl- Heinz Bohrer konstatierte? Für Joachim Fest ist Grass der Repräsentant eines demonstrativen deutschen Büßertums, das der Welt vorleben wollte, „wie eine historische Last anzunehmen sei“, und so unter veränderten Vorzeichen ein unseliges deutsches Überlegenheitsgefühl perpetuierte. Die Teilung erschien danach als Zeichen solcher Buße. Obwohl diese Fiktion zusammengebrochen ist, klammert sich der Bußfertige weiterhin an das gewohnte Weltbild. Im letzten Kursbuch schließlich ist zu lesen, Grass wolle Deutschland, wie den legendären Oskar Mazerath, „Zwerg bleiben“ lassen; vor der weltpolitischen Verantwortung eines Deutschlands, das endlich erwachsen geworden ist, flüchte er in „Regression und Biedermeier“.

An solchen Beobachtungen ist wenigstens eines mit Sicherheit falsch: der Vorwurf mangelnden Nationalgefühls. Immerhin hat Grass im Streit um die Wiedervereinigung dem deutschen Nationalstaat das Konzept der „Kulturnation“ entgegengesetzt — seit den Tagen Herders und Schillers der Ausdruck eines deutschen Sendungs- und Sonderbewußtseins, das sich über die „flache“ westeuropäische „Zivilisation“ der Händler und Politiker erhaben wähnt. Nur so hat Grass die Zerstörung einer vermeintlichen „DDR-Identität“ als Vernichtung gewachsenen deutschen Kulturgutes durch einen technologie- und konsumbesessenen, amerikanisierten Westen betrachten können.

Als einer der Repräsentanten einer deutschen Bewegung, die der Welt den Frieden erklären wollte, erlebte Grass Anfang der achtziger Jahre wahrscheinlich den Höhepunkt seiner Karriere als moralische Instanz der Bundesrepublik. Der Traum des Schriftstellers, die Deutschen zu einem nunmehr beispielhaft friedfertigen Volk zu erziehen, schien für einen Moment in Erfüllung zu gehen. Denn nicht wenig hat der Erzieher Grass mit den Deutschen vorgehabt: Aus verkrüppelten Monstren sollten moralische Riesen werden; das war Anspruch und Maßstab seiner Kritik an der deutschen Realität. „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läß mich kaum aus dem Auge“, so beginnt die „Blechtrommel“. Keine allzu große Unruhe sollte die Therapie des deutschen Patienten gefährden. Seinem fatalen Hang zum Irrationalismus galt es entgegenzuwirken. Konsequenterweise agitierte Grass in den sechziger Jahren nicht nur mit der SPD gegen Rechts, sondern stellte sich auch entschieden gegen die Revolutionsromantik der Linken. Daß man ihn dafür als Reaktionär abstempelte, nahm er in Kauf.

Daß er in den achtziger Jahren zu allem und jedem seine mahnende Stimme erhob — so oft, daß Hellmuth Karasek den ironischen Vorschlag machte, man möge dem Prediger eine Sonderleitung einrichten, um seinen jeweils neuesten Appell an das Weltgewissen sofort in das laufende Fernsehprogramm einschalten zu können —, dieser grimmige Wille zur permanenten Verlautbarung entspringt offenbar weniger der Geltungssucht als einem lutherischen Zwang, von den Regungen des Gewissens umgehend und kompromißlos Zeugnis ablegen zu müssen.

Grass' Eintreten für den Schnekkentempo-Fortschritt und seine Affirmation der demokratischen Institutionen der Bundesrepublik wirkten auf die Zeitgenossen der aktivistischen sechziger Jahre rückständig und bieder. Heute aber lesen sich Sätze aus dieser Zeit anders: „O ihr schmalbrüstigen Radikalen, denen Reformen zu langsam und widersprüchlich verlaufen. Ihr redet Revolutionen das Wort, die längst stattgefunden und sich selbst umgebracht haben.“

Grass repräsentiert den Typus des moralisierenden Intellektuellen, der heute als unzeitgemäß gilt. Und doch waren jene, die ihn mitsamt der Gruppe 47 und der „Gesinnungsästhetik“ der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur schon begraben wollten, womöglich zu voreilig. Der höhnische Vorwurf der Verfechter eines „normalen“ deutschen Nationalgefühls, Grass habe mit seinem Kassandraruf über das Wiederaufleben eines großdeutschen Nationalismus nur seinen bedenklichen Wirklichkeitsverlust dokumentiert, müßte ihnen inzwischen eigentlich peinlich sein. Und Grass könnte diesen „Realisten“, die in seiner Warnung nur noch die Mythen eines Ewiggestrigen erkennen wollten, wieder einmal die Leviten lesen.