„Ich bin stolz, anders zu sein“

■ Schüler der Marschallstraßen-Grundschule über ihre Erfahrungen/ Von und mit: N. Degirmenci, H. Eroglu, G. Haciabdurrahmanoglu, A. Krauß, S. Lesemann, S. Radtke, H. Sayan, C. Treppte

„Ich war gerade aus der Türkei gekommen und stand zum ersten Mal in einer deutschen Klasse. Ich mußte mich in die allererste Reihe setzen. Das war mir im Grunde ganz recht, weil so die anderen Schüler sich nicht andauernd umdrehen und mich anstarren konnten. Irgendwie war ich da hinten geschützt. Ich fiel gleich auf. Die meisten Schüler trugen damals schon Jeans, und ich kam an in einem rosafarbenen Cordrock mit Weste. Das war sozusagen mein bestes Stück, ich hatte es gerade zum Abschluß in der Türkei bekommen. Und hier war es peinlich. Später bekam ich keine Noten, weil ich nicht ausreichend Deutsch konnte. Das war für mich ein bißchen erniedrigend. Ich wollte ja mitstreiten. Die Eingliederung in das Schulgeschehen war schwierig. Ich meldete mich und wenn ich aufgerufen wurde, sprang ich auf und begann mit lauter Stimme zu sprechen. Sofort fingen alle anderen an zu lachen. Ich wurde jedesmal knallrot. Schließlich fragte mich meine Lehrerin, ob das in der Türkei so üblich wäre, und ich sagte ja. Es verging viel Zeit, bis ich mir dieses Verhalten abgewöhnt hatte. Ich hatte ja auch niemanden, der auf mich zugegangen wäre. Obwohl meine Lehrerin sehr bemüht darum war. Ich habe dann sehr schnell versucht, mein Aussehen zu verändern: die Haare wurden immer kürzer, dann kam der Kajalstift für die Augen, die ersten Jeans. Das ist wie ein Überlebenskampf. Ich wollte ja nicht immer eine Außenseiterin bleiben, und ich wollte nicht immer alleine hinten in der Ecke stehen. Es war für mich vielleicht leichter als für andere, weil ich deutsche Verwandte hatte und im allgemeinen nicht für eine Türkin gehalten wurde. Es gab noch eine Marokkanerin in der Klasse, die eine relativ dunkle Hautfarbe hatte. Sie hatte es viel schwerer als ich.“

Fremd sein = Mängel haben

Während Einheimische das Fremde oft als Abweichung, als Abwesenheit von Normalität wahrnehmen, ist der Begriff für Betroffene ebenfalls negativ besetzt. Fremd sein heißt: angestarrt werden, (unangenehm) auffallen und dabei nicht wissen, was gleich auf mich zukommt – „Fremd ist, wenn man alleine ist.“

Ein türkisches Kind kommt neu in eine Kindergruppe. Ali spricht nicht oder jedenfalls kein Deutsch. Erst als eine türkischsprachige Erzieherin zu der Gruppe stößt und sich mit Ali unterhält, nehmen die anderen Kinder in der Gruppe wahr, was es mit den fremden Lauten auf sich hat, die sie bis jetzt für Gestammel gehalten haben mögen. „Ach, kann er denn sprechen?“ fragen sie. „Er spricht Türkisch“, erklärt die Erzieherin. „Merhaba heißt zum Beispiel ,Guten Tag‘. Das könnt Ihr auch sagen.“ Die anderen wollen mitmachen. Mit einem Mal ist Ali kein Mängelwesen, sondern hat eine besondere Fähigkeit, von der auch andere lernen können.

Die Frage, wie Kinder mit Fremden umgehen, ist kaum zu trennen von der Frage, wie wir als PädagogInnen ihre Wahrnehmung des Fremden gestalten. „Das fängt ja auf dem Spielplatz schon an. Da siehst du die deutschen Mütter alle zusammen auf einer Bank sitzen. Und auf einer anderen Bank sitzen die türkischen Mütter. Wenn es genug Bänke gibt, sitzen deutsche Mütter nach Möglichkeit noch jede allein auf ihrer Bank. Aber die Kinder gehen immer aufeinander zu, wenn man sie läßt.“

Der Druck zur Anpassung ist groß. Hinter der Annahme „Alle Menschen sind gleich“ steht allzu oft ein heimliches „... vorausgesetzt, sie sind so wie wir.“ Wenn Rahmenbedingungen außerordentlich günstig sind, mögen einzelne auch unter diesem Druck noch ihren Weg finden.

„Früher war es für mich schwer, offen zu sagen, daß ich Türkin bin. Erst als ich in der Ausbildung war, habe ich angefangen nachzudenken. Ich habe eben etwas von beiden Seiten. Heute habe ich meinen Weg gefunden. Ich bin stolz, anders zu sein.“ Ein „Anderssein“, das sich bekennen kann, anstatt verschämt zu sein, bedeutet auch: wachsen können, Wissen und Erfahrungen haben sowie insgesamt mehr Wahlmöglichkeiten haben. Wichtig ist zu wissen, wer ich selbst bin, meine Geschichte und meinen Hintergrund zu kennen und dabei offen zu sein für Neues. „Ich habe

auch immer bei Religionsstunden mitgemacht. Es ist mir egal, welchen Glauben andere Menschen Fortsetzung Seite 13

Fortsetzung

haben. Für mich war das nicht anders, als zum Mathematikunterricht zu gehen. Meine Zeit dort ist ja nicht verloren, weil ich etwas über andere Menschen erfahren kann. Ich habe immer über mich selbst nachgedacht und auch Vorbilder gehabt. Ich bin ich selbst. Und ich entscheide, was für mich ein guter Weg ist oder nicht.“

Vielfalt statt Fremdheit

Begegnung mit Fremden sollte eine Chance für alle sein, die eigenen Möglichkeiten zu entfalten. Die Frage ist, ob wir als Erwachsene Kindern diese Chance vermitteln. Die Frage ist auch, was Schulen und andere Einrichtungen tun können, um diesen Prozeß zu erleichtern.

Der Satz „Alle Menschen sind gleich“ wäre zu erweitern. „Alle Menschen sind gleich, aber trotzdem sind wir alle verschieden.“ Ohne daraus gleich ein Problem zu definieren (in der Art von: „Ausländer“ sind ein Problem oder haben eines). Kann es nicht spannend sein, miteinander umzugehen und Gelegenheit zu finden, sich anderen Menschen zu öffnen? An jeder Stelle des Schullebens bzw. im Unterricht ergeben sich Ansatzpunkte, um zu zeigen, wie jede/r Welt anders erlebt, wie wir aber auch von außen unterschiedlich geprägt sind.

„Nachdem wir jetzt das Erntedankfest mit allen im Stadtteil vertretenen Konfessionen gemeinsam in der evangelischen Kirche gefeiert haben, kamen die türkischen Mädchen aus dem 4. Schuljahr und sagten, als nächstes sollten wir eine gemeinsame Feier in der Moschee haben. Aber sie müßten dann ein Kopftuch benutzen. Wir haben dann darüber gesprochen, daß das in diesem Fall für uns alle gilt. Weil wir ehren wollen, was für andere Menschen wichtig ist. Für die gesamte Klasse war klar, daß das Kopftuch keine Diffamierung, sondern eine Wahlmöglichkeit ist.“

Die Gemeinschaftsgrundschule an der Marschallstraße in Gelsenkirchen versucht, in Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen den Weg der Einheit in der Vielfalt mit allen Betroffenen und Beteiligten zu gehen. Wer durch das Gebäude streift, bemerkt schon an der äußeren Gestaltung, daß hier Menschen verschiedener Kulturen leben und lernen. Über den Stadtteil hinaus richtet sich dabei der Blick auch auf das globale Dorf Welt mit seinen Schwierigkeiten und Möglichkeiten. Ausstellungstische und Wandbilder informieren derzeit über die Ergebnisse des Projekts ,Wie leben indianische Kinder?‘

„Es geht nicht um Gegenüberstellung, dieses ,Ich deutsch — Du Ausländer‘. Es geht darum, in der Vielfalt zu zeigen, wie wir sind. Die höhere Wertigkeit des Fremden entsteht ja dadurch, daß wir gerade nicht gegenüberstellen, sondern verschiedene Lebensformen vorstellen. Auch unser eigenes Leben ist eine von verschiedenen Möglichkeiten. Jede Begegnung heißt dann auch: ,Wir lernen uns kennen.‘“

Die Folge ist keineswegs, daß jede/r weiterhin im eigenen Saft kocht. Durch die Akzeptanz des Fremden entstehen für alle Beteiligten unabhängig von der Berufsrolle, Alter und Nationalität vielmehr auch Wahlmöglichkeiten und Offenheit nicht nur im Hinblick auf Kulturen, sondern etwa auch typische Geschlechterrollen: Zwei weiblich besetzte Fußballgruppen gibt es inzwischen an der Schule, in der die türkischen Mädchen die führende Rolle spielen.

Nachbarschaftsschule sein heißt auch, Eltern einzubeziehen, das Umfeld zu aktivieren und sich für allgemeine Belange einzusetzen. Durch den Einbezug der Erwachsenen wächst nicht nur die Akzeptanz von Schule, sondern auch die Akzeptanz der Kinder untereinander. „Der Mehmet war lange Zeit der Prügelknabe. Doch seit seine Mutter in der Klasse den anderen Kindern gezeigt hat, wie türkisches Fladenbrot gebacken wird, stand er plötzlich ganz anders da.“

Gemeint ist nicht Exotismus und nicht Schönfärberei. Es geht nicht um Kebabstände beim Schulfest. Es geht unter anderem darum, daß auch die allen Grund haben, stolz durchs Leben zu gehen, die nach gängiger Lesart angeblich weniger oder das Falsche vorzuweisen haben. Als Neclas Mutter sich entschloß, den Alphabetisierungskurs zu besuchen, war die Tochter am ersten Morgen beschämt: „Nun wissen es alle.“ In der Klasse wurde das Thema aufgegriffen. Wie es kommt, daß nicht alle Erwachsenen Lesen und Schreiben können, und was für eine großartige Leistung es ist, wenn jemand sich dazu entschließt, dies nachzuholen. Gegen Mittag kam Neclas Mutter mit vor Aufregung roten Wangen aus dem Kurs, lachend. Unten wartete Necla, stolz. Nun wußten es alle, daß ihre Mutter versuchte, dazuzulernen. Und auch, daß wir alle in der einen oder anderen Form dazugelernt haben.

Fremde sind nicht

Das Thema dieses Textes sollte eigentlich lauten: „Wie gehen Kinder mit Fremden um?“ Es ist kein Zufall, daß die Beteiligten an diesem Text im Gespräch immer wieder zu der Frage zurückkehrten: „Was leben wir Kindern vor und welche Wahrnehmungsmuster vermitteln wir ihnen?“ Und auch: „Wo können wir vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte Brücken bauen?“ Das Fazit ist denn auch: Fremde sind nicht. Fremde werden gemacht.