Einwanderungsland wider Willen

Ausländer in Deutschland – ein pragmatisch-programmatisches Buch argumentiert zwischen den Fronten ausländerfeindlicher versus ausländerfreundlicher Stereotypen  ■ Von Matthias Geis

Gleich vorweg – „Heimat Babylon“ ist ein unzeitgemäßes Buch. Es plädiert für und argumentiert mit Gelassenheit. Der Gestus ist Programm – in einer Debatte, die sich durch Demagogie und beispiellose Polarisierung auszeichnet. Er speist sich aus der Überzeugung, daß Deutschland wider alle Dementis ein Einwanderungsland ist – und bleiben wird. Es geht ihm um die Anerkennung dieser Realität und der Konflikte und Zumutungen, die sie mit sich bringt. Die Tendenz in Richtung multikulturelle Gesellschaft, so die Autoren lakonisch, ist unumkehrbar. „Sie hat zwei Seiten: eine vorteilhafte und eine, die angst macht. Von beiden muß gesprochen werden.“

Von beiden zu sprechen bedeutet, die Fundamentalismen hinter sich zu lassen, von denen die aktuelle Auseinandersetzung dominiert wird. Denn das dumpfe „Ausländer raus“ mit dem Generalverdacht gegen die Deutschen zu kontern, ist eben kaum mehr, als der Austausch des rechten durchs linke Stereotyp. Zum friedfertigen, zivilen Miteinander werden beide kaum beitragen. „Heimat Babylon“ ist der Versuch, den aktuellen Simplifizierungen beizukommen und die falschen Alternativen aufzulösen: den Traum von der Bundesrepublik als melting pot ebenso wie die völkische Perspektive eines ausländerfreien Deutschland. „Einiges wäre gewonnen“, so Schmid/ Cohn-Bendit, „wenn es gelänge, einen Konsens darüber herzustellen, daß das heikle Problem der Ausländer in Deutschland von der Bühne der populistischen Schaukämpfe wie der internationalistischen Verbrüderungsmatinees heruntergeholt werden sollte...“

„Heimat Babylon“ beginnt als glänzend geschriebener Essay über den Zusammenhang von Migration und Moderne, Aufklärung und Fremdenfeindlichkeit. Entgegen der landläufigen Auffassung vom direkten Zusammenhang zwischen der Anzahl der ausländischen Bürger und dem Grad der Fremdenfeindlichkeit gehen Schmid/Cohn-Bendit dem psychosozialen Bedürfnis nach, das sich immer wieder „konkrete“ Ursachen und identifizierbare Objekte sucht, an denen sich das Unbehagen in einer aufgeklärten und rationalisierten, zugleich unübersichtlichen und unbehaglichen Realität fixieren läßt. Dieser Mechanismus – eher als die angeblich überschrittenen „Kapazitätsgrenzen“ – verschaffe den ausländerfeindlichen Parolen ihre Plausibilität. In der ehemaligen DDR jedenfalls ist der Ausländeranteil seit 1990 auf deutlich unter ein Prozent gesunken. „Wo die Ausländer derart in der Minderzahl sind, daß sie statistisch kaum mehr zu Buche schlagen, fallen sie – weil die eine große und exotische Ausnahme – um so mehr auf.“

„Heimat Babylon“ bietet ein buntes Exposé der Mißverständnisse im multikulturellen Alltag, die – ceterum censemus der Autoren – alle auf ein Grundproblem verweisen: Die Bundesrepublik ist eine multikulturelle Gesellschaft wider Willen. Noch immer mühe sich die Diskussion hierzulande um die längst entschiedene Frage nach dem „Ob?“ der Einwanderung. Verpaßt werde damit die Antwort auf das „Wie?“ und „Wie weiter?“. Um so verwunderlicher erscheint dieser Sachverhalt nach Lektüre des dritten Kapitels, das – genüßlich und höchst materialreich – zeigt, wie planmäßig und bewußtlos zugleich die Bundesrepublik seinerzeit die Fremden ins Land holte. Während Politik und Wirtschaft massenhaft Ausländer anwarben, wurde die Fiktion aufrechterhalten, es handele sich hierbei um „vorübergehende Aushilfskräfte, die nie in die Stammbelegschaft der deutschen Gesellschaft vordringen würden“. Wenn bis heute die Anwesenheit von Fremden als „Regelverletzung“ wahrgenommen wird, so wirke darin nicht zuletzt auch die „Lebenslüge“ aus den Wirtschaftswunderjahren nach.

Der Trend zur Einwanderung läßt sich nicht umkehren und wäre– wie die Autoren plausibel begründen – alles andere als wünschenswert. Das gilt gerade auch für diejenigen, denen alle Schwärmerei fürs Multikulturelle fernliegt. So ließe sich etwa nach einer Berechnung des deutschen Instituts für Wirtschaft die gegenwärtige Zahl bundesdeutscher Arbeitskräfte nur bei einer jährlichen Zuwanderung von 300.000 Menschen aufrechterhalten. Oder: Anhand einer kommunalen Studie wird detailliert nachvollzogen, was der Weggang der ausländischen Bürger für die zurückbleibenden Deutschen bedeuten würde – den „Untergang von Düsseldorf“, wie die Kapitelüberschrift ironisch pointiert.

Weil die Bundesrepublik ein Einwanderungsland wider Willen ist, verfügt sie weder über Regeln noch über einen Konsens, wie mit der Einwanderung umzugehen sei. Dieses grundlegende Defizit kann auch eine Institution wie das „Frankfurter Amt für multikulturelle Angelegenheiten“, dem ein Kapitel des Buches gewidmet ist, schwerlich kompensieren. Dennoch könnte die „programmatische Botschaft“ des „Frankfurter Modells“ die Maxime für eine zivile Konfliktbewältigung zwischen ausländischen und deutschen Mitbürgern abgeben: Ausländer müssen „weder pauschal geliebt noch paternalistisch gegängelt werden“. Von den Deutschen wird die Akzeptanz der Zuwanderer erwartet, die weder institutionell noch gesellschaftlich diskriminiert werden dürfen. Doch sollen zugleich die „die Grenzen kultureller Divergenz auf der Grundlage von Menschenrechten und Verfassung bestimmt“ werden.

Unter anderem der Praxis des Frankfurter Multikulti-Amtes – Cohn-Bendit ist Dezernent – dürfte der ungezwungene Gestus des Buches entstammen. Alltägliche Vermittlung zwischen Deutschen und Migranten in einer Stadt, in der Ausländer ein Viertel der Bevölkerung ausmachen, zwingt zu entideologisierter und unverstellter Konfliktwahrnehmung. Der ungekünstelte Problemzugang der Autoren läßt einem da schon hin und wieder den Atem stocken: „Sind Ausländer krimineller als Deutsche? – Ja, sie sind es. Und sie sind es doch nicht. Diesen Widerspruch wollen wir im folgenden aufklären“, heißt es etwa an einer Stelle. Da können die konträren Reflexe kaum ausbleiben. Für die einen wird sich bereits die Frage verbieten, den anderen gilt sie als überflüssig, weil die Antwort immer schon ausgemacht ist. Die Autoren agieren dazwischen. In der Analyse löst sich das blinde Ressentiment wie die ängstlich-schützende Ignoranz.

Das Frankfurter Amt sucht in der Republik seinesgleichen. Es kann, so die Autoren, schwerlich die grundlegenden Widersprüche beseitigen, die sich aus dem gesellschaftlichen und staatlichen Unwillen herleiten, die Realität der Bundesrepublik als Einwanderungsland anzuerkennen. Kaum überraschend: Die Autoren plädieren für eine „offensive Ausländerpolitik“. Erster Teil ihres Vorschlages: eine Neufassung der Asylpraxis, die sowohl den „neuen Fluchtgründen“ am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Rechnung trägt, zugleich aber auch den Mißbrauch beendet, der darin besteht, daß sich auch die normale, verfolgungsunabhängige Einwanderung durch das Nadelöhr des Asylrechtes vollzieht. Das impliziert – zweiter Teil des Vorschlages – „die institutionell folgenreiche Anerkenntnis, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist, bleiben wird und bleiben soll“.

Aus „gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Überlebensinteressen“ müsse die „Politik der Nicht-Regelung“ aufgegeben und eine kontrollierte Einwanderung ermöglicht werden. Nur dann könne auch das aus der öffentlichen Konfrontation herausgenommene Asylgrundrecht seine Würde zurückgewinnen. Das scheint hochplausibel und doch – vergegenwärtigt man die Entwicklung der letzten Monate – gesellschaftlich wie politisch kaum mehr durchsetzbar. Ein gravierender Einwand stammt von den Autoren selbst: „Mit der Ausländerfeindlichkeit verhält es sich nicht anders als mit der Wirklichkeit: Argumente sind nur sehr begrenzt in der Lage, ihr beizukommen. So unbegründet sie auch sein mag – jede Phobie ist ganz einfach real. Man kann sie nicht widerlegen; zwischen Angst und Argument sind die Brücken abgebrochen.“ An anderer Stelle haben die Autoren ein Moratorium für die Entscheidung über die zukünftige Asyl- und Einwanderungspraxis gefordert. Dem schließen wir uns an. In der Zwischenzeit empfehlen wir allen, die sich berufen fühlen, in dieser Frage mitzudiskutieren oder gar mitzuentscheiden, wärmstens die Lektüre von „Heimat Babylon“.

Daniel Cohn-Bendit, Thomas Schmid: „Heimat Babylon · Das Wagnis der multikulturellen Demokratie“. Hoffmann und Campe, 384 Seiten, 38 DM