Kairos Altstadt nach dem Erdbeben

Die Islamisten organisieren schnelle Hilfsprogramme für die Erdbebenopfer in Ägypten, während die Bürokratie nur langsam mit den Folgen des Bebens fertig wird  ■ Aus Kairo Karim El-Gawhary

„Endlich, die besch muhandis – die Herren Ingenieure – sind gekommen“, schreit eine Frau. Verzweifelt versuchen uns mehrere Dutzend Menschen in verschiedene Richtungen in ihre Häuser abzudrängen. „Seit Tagen schlafen wir draußen oder in Moscheen, und niemand kümmert sich um uns“, setzt jemand aus der Menge hinzu.

Mit zwei Ärzten und zwei Bauingenieuren haben wir uns in die Altstadt Kairos begeben. Unsere Begleiter wollen eine erste Bestandsaufnahme der Häuser, die nach dem Erdbeben vor wenigen Tagen zerstört wurden, versuchen. „Die Leute von der Regierung sind da“, tönt es aus einem der Häuser. Eine Vorstellung, die einer der Ingenieure schnell und eindeutig zerstreut. Denn sie kommen nicht von der Regierung, sondern auf Initiative des Ärzte- und des Ingenieurverbandes. Diese beiden Berufsverbände sind Hochburgen der islamistischen Opposition im Land. Seit Jahren hält diese eine stabile Mehrheit und damit die Geschicke der beiden Verbände in der Hand. Wie wichtig diese Organisationen strategisch sein können, das zeigt sich erneut bei der Hilfe für die Erdbebenopfer in der ägyptischen Hauptstadt.

„Wir sind eben schneller als die Regierung“, sagt Aschraf Abdel Ghafar, Vorsitzender des Hilfskomitees des Ärzteverbandes, lächelnd. Noch Stunden nach dem Erdbeben, während auf den Straßen Tausende von Menschen versuchten, ihre Verwandten in ein Krankenhaus zu fahren, spielten das von der Regierung kontrollierte Fernsehen und das Radio nur ihre üblichen Seifenopern ab. Die ersten Bestandsaufnahme-Teams der islamistischen Berufsverbände waren da bereits unterwegs.

Alles funktioniert nach einem großangelegten Plan. Unser Team hat die Aufgabe, das Viertel Batneya in der Altstadt Kairos zu begutachten. Es liegt direkt hinter der Azhar, der „blühenden“, tausendjährigen islamischen Universität. Zu Sadats Zeiten blühte in dem Viertel hinter der Moschee besonders das Drogenzentrum der Stadt. Inzwischen gilt es als weitgehend ausgetrocknet und vegetiert wie viele seinesgleichen in der Armut der Kairoer Altstadtviertel vor sich hin. Die Häuser sind alt. Von außen haben sie in den engen verwinkelten Gassen exotischen Charme. Doch innen leben die Menschen mit einer völlig desolaten Infrastruktur und ständiger Einsturzgefahr – auch ohne Erdbeben.

„Ihr müßt zuerst in die Nummer 5 kommen“, brüllt eine korpulente alte Frau. Mit heiserer, aber durchdringender Stimme übertönt sie alle anderen. Es entsteht ein Handgemenge, in dem sich die Frau bei ihrem Nachbarn rasch Respekt verschafft. Kurzerhand hängt sie sich bei einem der Ingenieure ein, um ihn mit sanfter Gewalt in ihr Haus zu ziehen. „Die Leute haben kein Vertrauen mehr zu den Autoritäten. Sie haben Angst, daß die hier nur kurz vorbeischauen und dann wieder weiterziehen. So versucht jeder, der erste zu sein“, interpretiert einer der jungen Ingenieure die Faustrecht-Atmosphäre.

Er begutachtet die Schäden am Haus. Die Wände haben fingerdicke Risse. Manche Treppen sind nicht mehr begehbar. Nur noch ein paar Ziegen suchen in den obersten Stockwerken nach etwas Eßbarem. Überall an den Wänden sind rote Handabdrücke zu sehen. Die Bewohner hatten beim letzten großen Beiram-Fest ihre Hände in das Blut der geschlachteten Schafe getaucht und dann an die Wand gedrückt. So glauben sie die bösen Geister vom Haus fernzuhalten. Immerhin, das Haus ist durch das Erdbeben nicht ganz in sich zusammengefallen.

Das Erdbeben hat den Glauben der Bewohner gestärkt. „Nur Allah weiß, wann das nächste Beben kommt. Selbst die Wissenschaft, die er uns gegeben hat, vermag so etwas nicht vorherzubestimmen“, belehrt ein alter Mann in dem weißen, beinlangen Kleid der ägyptischen Männer die Umstehenden. Viele sehen das Erdbeben gar als eine Strafe Gottes für die unislamische Lebensweise der Gesellschaft.

Währenddessen versucht einer der Ärzte eine Liste der Hausbewohner zu erstellen. Von allen Seiten halten ihm die Leute Ausweise, Heiratszertifikate oder alte Stromrechnungen mit ihren Namen unter die Nase. Sie wollen nur eines: Keine weitere Nacht mehr in diesem baufälligen Haus übernachten. Die Angst vor weiteren Beben geht um. Die alten Häuser würden sie vermutlich nicht mehr überstehen.

Allein der Krach und die Aufregung, das Gekreische und Gebrülle wegen unserer Ankunft provozieren einen weiteren Einsturz. Wenige Meter hinter uns flüchten plötzlich die Menschen unter donnerndem Getöse aus ihrem Haus.Eine der Decken war eingestürzt. Aus der Haustür dringt eine dichte Staubwolke. Verletzt wurde niemand. Al-Hamdulillah, Gott sei Dank, ist von allen Seiten zu hören. Aber die Gesichter der Menschen verraten, daß sie mit den Nerven am Ende sind.

Die Ingenieure und Ärzte versprechen schnelle Hilfe. In den nächsten Tagen werden sie Zelte und Decken bringen und auf einem freien Platz in der Nähe aufbauen. Medhat Kamal, der Ingenieur, sieht sich verschiedenen Aufgaben gegenüber. „Den Einwohnern der gut erhaltenen Häuser muß die Angst genommen werden, wieder dort einzuziehen. Die völlig untragbaren Gebäude müssen eingerissen und ersetzt werden. Falls ihre Häuser repariert werden können, sollen die Bewohner zusammenlegen und den Rest aus anderen Mitteln, z.B. mit Hilfe des Ingenieurverbandes, finanzieren“, sagt er. In jedem Fall aber müsse die Regierung zur Verantwortung gezogen werden.

Die reagierte inzwischen und versprach, unverzüglich 1.100 Wohnungen für die Opfer des Erdbebens zur Verfügung zu stellen. Jede Familie, die einen Todesfall zu beklagen hat, erhält 5.000 ägyptische Pfund, etwa 2.500 Mark. Für die Regierung Mubarak kommt es nun darauf an, die verschlafenen ersten Tage möglichst schnell nachzuholen und so ihr Image aufzubessern. Geld vom Ausland fließt bereits. Saudi-Arabien hat 50 Millionen Dollar Soforthilfe zur Verfügung gestellt. Aus den anderen Golfstaaten kommen weitere 70 Millionen Dollar, Libyen spendete sogar 60 Millionen Dollar. Symbolisch tourten der Präsident und seine Frau am Mittwoch durch die Kairoer Krankenhäuser, dutzendfach in Presse und Fernsehen abgelichtet. Die ersten 580 Obdachlosen sollen bereits mit Hilfe der Regierung wieder ein Dach über dem Kopf haben, hieß es im Fernsehen. Doch die bürokratischen Mühlen mahlen langsam. Die Einwohner von Batneya haben bisher niemanden von der Regierung gesehen.

Das Erdbeben kam zu einer Zeit, in der die meisten ÄgypterInnen ohnehin schon das Vertrauen zur Regierung verloren haben. Gerade die Preissteigerungen der letzten Monate im Rahmen des Strukturanpassungsprogramms von IWF und Weltbank liegen den Menschen schwer im Magen. Die Subventionierung der Energie soll schrittweise zurückgenommen werden. Benzin-, Strom- und Gaspreise haben sich in diesem Jahr um bis zu 40 Prozent verteuert. Mit der Privatisierung des öffentlichen Sektors werden sich in den nächsten Jahren weitere Tausende, vor allem Jugendliche, dem Heer der Arbeitslosen zugesellen. Die älteren Leute schwärmen von den guten alten Zeiten, als alles noch billig und Kairo nicht so überlaufen war. Die jüngeren träumen vom Auswandern nach Europa, in die USA oder nach Australien. Irgendwo, wo sich ihnen doch noch eine kleine Chance bietet. Vom Staat erwartet mittlerweile in Ägypten fast niemand mehr etwas.

Die Geduld der ÄgypterInnen ist bereits erschöpft. Seit Monaten führt die Regierung mit Hilfe von neuen Anti-Terror-Gesetzen Krieg gegen militante islamistische Gruppierungen im südlichen Oberägypten. Dort ging die Kontrolle des Staates oft nicht mehr über die Polizeistation hinaus. Unorganisierte spontane Aufstände im Nildelta sind die neueste Variante des Verdrusses. Als vor wenigen Wochen in der Deltastadt Edku ein Händler auf der Polizeiwache umkam, kochte die Volksseele über. Mit dem Vorwurf, der Mann sei auf der Polizeistation zu Tode gefoltert worden, ließen die Bewohner ihrem Frust freien Lauf. Innerhalb weniger Stunden hatten sie alles, was irgendwie nach Staat aussah, niedergebrannt. Vom lokalen Verwaltungsgebäude und der Polizeistation bis zur staatlichen Bäckerei. Nur mit massivem Polizeieeinsatz konnte die Regierung die Lage wieder unter Kontrolle bringen.

Es ist diese Wut auf die Regirung, die der islamistischen Opposition zugute kommt. Sadat benutzte die Islamisten und hetzte sie auf die Reste linker und nasseristischer Opposition, vor allem an den Universitäten. Mit Erfolg. Unter Mubarak entwickelten sich die Islamisten zur einzigen Opposition, die politische Arbeit an der Basis organisieren kann und darf. Daß sie das erfolgreich leistet, das zeigt einmal mehr ihre schnelle Hilfe für die Erdbebenopfer.

„Der linken Opposition hat der Staat nie die gleichen Rechte eingeräumt. Sie durfte z.B. nie wie die Islamisten sogar in den Regierungszeitungen Spendenaufrufe veröffentlichen. Und sie konnte sich nie in Institutionen wie den Moscheen versammeln“, sagt der Anwalt und Vorsitzende eines Kairoer Rechtsberatungszentrums, Amir Salim. Sein Berufsverbund, der Anwaltsverein, ist bei den Wahlen vor wenigen Wochen von den Islamisten mehrheitlich übernommen worden.

Er galt als eine der letzten liberalen Bastionen, in der auch die ägyptische Linke stark vertreten war.

Anstelle eines Programmes verkündet die islamistische Opposition den Slogan „Der Islam ist die Lösung“. Bewiesen werden soll dies durch praktische Arbeit. In einem dichten Netz, meist von den Moscheen ausgehend, bietet sie allerlei Dienstleistungen an, die den mittellosen einfachen Bürgern vom Staat kaum noch zur Verfügung gestellt werden – von billigen Krediten bis zu medizinischer Versorgung.

Es ist ein Wettrennen zwischen Islamisten und Staat. Da die islamistische Opposition inzwischen zu groß ist, um sie mit den üblichen repressiven staatlichen Mitteln unterdrücken zu können, muß sich der Staat auf dieses Rennen einlassen. Für viele Erdbebenopfer haben die Islamisten mit ihren unbürokratischen Hilfsaktionen wieder Punkte in diesem Rennen gemacht. „Die Regierung hilft nur den Reichen. Es sind nur die echten Muslime, denen wir trauen können“, erklärt ein Mann. Er wartet vor einem der Zelte, die bereits von den islamistischen Berufsverbänden aufgestellt wurden, auf sein weiteres Schicksal.