Das fallende Wasser und der wilde Strom

■ Zweimal im Jahr überprüfen Experten den Zustand der Bremer Deiche / 80 % des Stadtgebiets von Hochwasser bedroht / Ein Ausflugsprotokoll

Die Landschaft glitzert in der Herbstsonne, die kleinen Bäche tragen ihr Wasser murmelnd zur Ochtum, Stille hat sich wie Nebel über die Wiesen gelegt. Nur die Gummistiefel von Rainer Suckau quietschen in der feuchten Erde.

Es ist mal wieder so weit. Der Ingenieur des Bremischen Deichverbandes am linken Weserufer hat sich mit einem Troß von Spezialisten aufgemacht, die Sicherheit der Deiche zu überprüfen. Zweimal im Jahr machen sie sich auf den Weg, eine Wanderung von 64 Kilometern.

„Wenn wir die Deiche nicht hätten, läge 80 Prozent des Bremer Stadtgebietes bei Hochwasser unter Wasser“, erzählt Suckau. Hochwassergefahr bedroht die Hansestadt von zwei Seiten: Die Sturmfluten der Nordsee drücken durch die Weser bis in die Ochtum, von der anderen Seite droht das Hochwasser aus den beiden Quellflüssen der Weser, Werra und Fulda.

„Der Deich bricht immer von hinten“, erklärt Suckau, und zeigt auf die Deichrückwand des Ochtumsdeiches. Die Deiche hier, kurz hinter der Wartumer Heerstraße, sind aus dem besten Material, aus dem Deiche sein können: Aus einfacher Erde. Spunt- und Betonwände brauchen viel mehr Pflege. Die alten Deiche sind aus Kleiboden, neuere Deiche — mit dem größeren Querschnitt — haben einen Kern aus Sand und sind mit Kleiboden abgedeckt.

Hochwasser droht von zwei Seiten

„Was ist das?“ Dieter Matthey, beim Innensenator zuständig für die Deichkontrolle, hat tiefe Risse direkt oben auf dem Deich entdeckt. Die Trockenheit des Sommers hat die Decke aufgerissen, Die Kontrolleure vermerken die Stellen in ihrem Protokoll, die tiefsten Risse werden später mit Sand und Erde aufgefüllt. Die kleineren werden sich im Herbst bei Feuchtigkeit von selbst schließen.

In Hasenbüren stößt der Trupp auf Deichschädlinge. Ein Gummistiefel von Suckau zerdrückt schmatzendend einen frischen Kuhfladen. Junge Kühe sind auf dem Deich geduldet, ältere Rinder und Pferde treten die Grassoden kaputt. „Schafe haben wir auf unseren Deichen nicht mehr“, erzählt Werner Dunker, stellvertretender Deichhauptmann. „Dazu ist das Weideland hier zu klein.“

Dagegen haben sich Maulwürfe, Kaninchen und Wühlmäuse „aufm Deich“ häuslich eingerichtet. Gegen sie wird nichts mehr unternommen, ihre Schäden halten sich in Grenzen.

Der Deich bricht immer von hinten

Die Jagd wäre ohnehin erfolglos, denn gegen sie ist weder Falle noch Kraut gewachsen. Nur gegen die Bisamratten wird hart durchgegriffen. Der hauptamtlich angestellte Bisamrattenjäger fängt 4.000 Bisamratten pro Jahr und verhindert damit, daß die Deiche in ein hohles Röhrensystem verwandelt werden.

Auch Bäume sind hier nicht gerne gesehen. Wenn sie mit der Wurzel zum Deich stehen, und bei Unwetter hin- und herwackeln, „suppen“ sie die Erde am Deich auf, die Erde wird weich und wasserdurchlässiger. In Strom hat man einige hohe Pappeln beschnitten, um zu verhindern, daß der Wind die Bäume durchschütteln kann. Anstelle der früher ausladenden Kronen stehen einige armselig struppige Äste in den Himmel ab. Noch Ärger sind die Schäden, die Menschenhand an den Deichen anrichtet. Eine Wasserleitung erregt die Aufmerksamkeit der Deichkontrolleure, die ein Anrainer von seinem Garten aus quer über den Deich gelegt hat. Die Leitung ist halb in den Rücken des Deiches eingegraben. Hof und Name werden notiert. „Das geht nicht.“

Der Troß ist in Hasenbüren angelangt. Jede Menge Häuser stehen hier auf dem Deich. Die Gärten sind teilweise mit Spuntwänden abgesichert. Die Betonwände werden begutachtet. Wichtig ist, die Elastizität mit weichem Kitt in den Fugen zu erhalten. Hagen Möller vom Vorstand des Deichverbandes klopft an ein Terrassenfenster, hinaus kommt sein Sohn mit einem Tablett Malteser für die Gesellschaft. Zur Stärkung. Rainer Suckau hat aber nur ein einziges mal erlebt, daß eine Deichschau wegen Trunkenheit abgebrochen werden mußte.

Mit dem Schnaps kommen die Geschichten. „Hier an unserem Hof war '62 die Hölle los. Dort drüben, unterm Deich lag der Schweinestall. Wir wollten die Viecher retten, da sah ich aber schon zwei von unseren Leuten im Wasser treiben. Wir kriegten sie gerade noch zu fassen. Naja, dann mußten wir die Schweine eben sein lassen. Gingen alle unter.“ Der Deichgeschworene rudert wie ein Ertrinkender mit den Armen in der Luft herum.

Oder 1962. Schwere Sturmflut. Wasserstand in Bremen: 5,41 über Normal-Null an der großen Weserbrücke. Sieben Tote sind in Bremen auf dem linken Weserufer zu beklagen.

Bäume und Bisamratten zermürben den Deich

Mehrere Hundert Menschen müssen Notquartiere aufsuchen. Die Deiche hielten, aber die Überschwemmung war trotzdem nicht zu verhindern.

Die letzte Katastrophe ereignete sich 1981: Randvoll war die Weser oberhalb des Wehres, und suchte sich den Weg über den Deich. Das fallende Wasser wurde ein wilder Strom. Die Schrebergartenhäuschen im Werderland waren im Nu Strandgut.

Im Lagerraum des Schöpfwerks Mühlhausen liegt Material zur Deichverteidigung:

Dammbalken, mit denen man die Deichscharten schließt. Wenn eine Straße den Deich kreuzt, werden die Seitenwände mit querliegenden Aluminiumbalken verstärkt.

30.000 Jutesäcke, sie werden im Ernstfall mit Sand gefüllt, der in der Nähe des Lagerhauses aufgehäuft ist.

Im Haus des Deichverbandes lagern 200 Schaufeln, Lampen und Berge von Jutesäcken.

Schlimmster Deich-Schädling ist die BremerIn

Der Ochtum-Deich in seiner heutigen Form wurde in den letzten Jahren mit einem Aufwand von rund einer Million Mark auf die notwendige Höhe gebracht. Das Geld kommt zum größten Teil aus den Gebühren des Deichverbandes: Alle Grundstückseigentümer links der Weser zahlen eine Zwangsgebühr an den Verband, die sich nach dem Wert der Grundstücke richtet. Ein normales Bremer Haus zahlt etwa 60-80 Mark im Jahr. Große Betriebe wie Beck & Co. entrichten eine Gebühr von etwa 10.000 Mark jährlich. Vier Millionen Mark pro Jahr kommen so zusammen. Mit diesem Geld werden 25 Angestellte bezahlt, 64 km Deich in Stand gehalten, 127 km Gewässer gepflegt und ein zugelaufener Kater sowie 18 Schöpfwerke unterhalten.

Nach einem halben Tag endet der Kontrollgang bei Fisch und Bier. Viermal zieht der Troß los, um alle Deiche zu überprüfen. Eine unscheinbare, aber wichtige Arbeit. „Deiche sind wichtig, damit man bei einer Sturmflut nicht absäuft. Dessen sind sich viele gar nicht bewußt“, sagt Werner Fischer vom Vorstand des Deichverbandes. Vivianne Agena