„Meine Herren Produzenten, seien Sie entspannt!“

Das westafrikanische Benin gilt als neue afrikanische Musterdemokratie, und entsprechend eifrig verbreiten ausländische Entwicklungsexperten und inländische Erneuerer die neuen Heilslehren. Ein Erfahrungsbericht  ■ Von Volker Janssen

Haies Vives (Lebende Hecken) und Cocotiers (Kokospalmen) gehören zu den allerbesten Vierteln von Benins Hauptstadt Cotonou. Experten der Entwicklungszusammenarbeit, Diplomaten und Angehörige der Oberschicht bewohnen hier zwei- bis dreigeschossige Villenklötze, deren Balkons und Terrassen in Ausmaß und Pflanzenschmuck Kleingärten ähneln. Entstehende Neubauten versuchen, sie noch zu übertreffen. Die beiden Viertel trennt und erschließt ein zehn bis zwanzig Meter breiter sandiger Straßenstreifen mit tiefen Löchern. Ihn säumen ein Supermarkt, ein Getränkemagazin und einige Restaurants.

Diese privilegierte Wohngegend durchzieht eine unsichtbare Grenze, die aber permanent überschritten wird. Vor dem Supermarkt steht ein Zeitungskiosk mit FAZ, Spiegel und Stern im Angebot. Kleine Verkaufsstände mit Tabak- und Süßwaren, die auch als Einzelstück erhältlich sind; etwas größere Stände, eher schon Tante- Emma-Läden und bis nach 22 Uhr geöffnet. Einige Schritte weiter wird bis gegen Mitternacht Hammelfleisch in kleinen Stücken an Spießen gegrillt und als Sandwich verkauft.

Die Grenzgänger sind also Dienstleistende. Die Villen wollen instand gehalten und bewacht werden. So lagern von Beginn der Abend- bis zum Ende der Morgendämmerung die gardiens, die Wächter, vor den Eingängen. Haies Vives und Cocotiers zählen zu den wenigen auch nachts sicheren Vierteln der Stadt. Wie kaum anderswo in Benin treffen hier, in Gestalt der Villenbewohner und ihrer Angestellten, Wohlstand und Armut direkt aufeinander. Meist ist der Zugang der Diener zum Haus reguliert. Mit Darlehenswünschen streben sie in günstig erscheinenden Momenten kleine Umverteilungen an. Einer hat seinen Bruder bei einem Verkehrsunfall verloren, jetzt liegt der Leichnam noch auf Eis im Hospital, muß aber bald zum Begräbnis in die 200 Kilometer entfernte Heimatstadt transportiert werden. 5.000 Francs (etwa 33 DM) wären eine enorme Hilfe dabei. Vor der Abfahrt platzen noch zwei Reifen. Manche Herrschaften weigern sich, solchen Geschichten zu glauben.

Selten nur wird die Armut der zu einem gepflegten Äußeren quasi dienstverpflichteten Angestellten direkt sichtbar, so wenn ein Nachtwächter, die gute Wasserversorgung nutzend, schnell mal Hose und Hemd wäscht und deshalb sein Bargeld ablegt: Ein paar Münzen, umgerechnet Pfennigbeträge, trägt der vollbeschäftigte Familienvater mit sich herum.

„Diskutieren Sie frei, aber ehrlich!“

Benin ist mit etwa 40 Prozent Stadtbewohnern relativ stark urbanisiert. Dennoch ist die Berührungslinie zwischen Bauern, Viehhaltern, Waldnutzern und Fischern einerseits und Regierung und Verwaltung andererseits ein politisch heikler Ort. Nach den langen Jahren der politischen Stille gibt es jetzt manchmal formelle Gespräche zwischen Bauern und Funktionären. Um die Umwelt beispielsweise kann es gehen. Ein moderierender Universitätsprofessor animiert die Bauern, „unsere lieben Verwandten“: „Meine Herren Produzenten, seien Sie entspannt! Diskutieren Sie frei, aber ehrlich!“

Dieser Paternalismus mag im einstigen Kommandostaat Benin sogar nötig sein, um zu verhindern, daß 90 Prozent der für Diskussionen reservierten Zeit von Funktionären zerredet wird. Ganz locker schaffen die es, die Gründe für das Scheitern ihrer Beratung nicht bei sich selbst zu sehen, sondern – allen Forschungsergebnissen zum Trotz – im Analphabetismus der Bauern. Auch diese selbst bezichtigen sich, „nichts zu verstehen“, beteuern, daß der Intellektuelle „immer das Licht für sie bleibe“, und bitten die „autorité“ um Hilfe bei der Lösung ihrer Probleme.

Doch ausgerechnet die als besonders patriarchalisch geltenden Viehzüchter fordern, daß auch ihre Frauen besser informiert werden. Bauern aus der Nähe der Hauptstadt werden ganz deutlich: Gegen die mit dem großen Geld daherkommenden hauptstädtischen Funktionäre seien sie im Kampf um den immer knapper werdenden guten Boden ohne Chance. Ebenso gegen die illegalen Gebühren für Holzschlagkonzessionen, welche Forstfunktionäre zur eigenen Bereicherung erhöben. Auch ein Funktionär kann plötzlich mutig werden und die vielen Diskussionen beklagen, die nur geführt würden, um den Geldgebern zu gefallen. Dennoch vielleicht kleine Schritte zu einem demokratischen Diskurs, der auch die jahrzehntelang politisch stummen Bauern nicht mehr ausschließt.

„Ich habe eine Nichtregierungsorganisation“

Aber die Schritte fallen schwer, schon aus sprachlichen Gründen. Viel geht bei gemeinsamen Seminaren von Bauern und Funktionären mit der Übersetzung zwischen dem Französischen und den lokalen Sprachen verloren. Die meisten Funktionäre dürften nach der politischen Wende des Jahres 1990 im Apparat verblieben sein. Das von Jahrzehnten Erfahrung reich genährte Mißtrauen der Bauern gegenüber allen Staatsmaßnahmen hat damit Grund fortzubestehen.

Den lediglich für seine eigenen Zwecke leidlich funktionierenden Staatsapparat wollen, mit plausibel klingenden Gründen, Internationaler Währungsfonds und Weltbank mit ihrem Strukturanpassungsprogramm verkleinern und zugleich effektiver machen. Nach Ablauf der Frist für ein freiwilliges Ausscheiden rollen die ersten Entlassungswellen. Gleichzeitig und konsequenterweise setzen die internationalen „Partner“ – IWF und Weltbank voran – auf einen erstarkten privaten Sektor. Zu dem gehören auch die ONGs, die Nichtregierungsorganisationen.

200 bis 300 soll es in Benin geben, und fast täglich wird eine neue gegründet. Viele der von Entlassung bedrohten Funktionäre und auch Akademiker haben die günstige Position zwischen den von der staatlichen Bürokratie frustrierten Gebern und den armen „Zielgruppen“ erkannt. „J'ai un ONG“ – mit diesen Worten betrat ein Funktionär ein Projektbüro.

Bewußtsein und Motivationen der Basis stärken zu wollen wird als Programm verkündet. Nur daß die meist ebenfalls in städtischen Büros residierenden ONGs von ihren armen Zielgruppen kaum besser zu kontrollieren sind als die staatliche Bürokratie – sofern es sich nicht eh um dasselbe Personal handelt. Zudem besetzen sie eine Leerstelle mit strategischem Wert: die Kommunalverwaltungen. Einem großen Quartier von Cotonou zum Beispiel, das vor allem von Angehörigen der unteren Mittelschicht bewohnt wird, steht ehrenamtlich ein pensionierter Funktionär vor. Über ein Budget und Fachpersonal verfügt er nicht. Für fünf Jahre ist er gewählt, eine seiner wichtigen Aufgaben ist es, von oben kommende Befehle umzusetzen.

Wenn ein deutsches Projekt in beninischen Mittelstädten Latrinenbau als gesundheitsverbessernde Maßnahme fördert, muß es sich, mangels handlungsfähiger Kommunalverwaltungen, eigene Selbsthilfegruppen als „Träger“ aufbauen. Als die größten und solidesten Gebäude in solchen Städten lassen Moscheen und Kirchen – nicht Rathäuser – erkennen, welche Gemeinden hier stark und lebendig sind. Und unbesorgt um ihre Exklusivität: Ein Stadtviertel, in dem vor fast jedem Haus ein – meist phallischer – Fetisch der Voodoo-Religion die Bewohner schützt, kann durchaus von einerzehn Meter hohen Marienstatue überragt werden.

Auf die Dörfer rollen Strukturreformen zu, und jede bringt komplizierte neue Aufgaben: Katastrierung, umweltgerechte Landnutzungsplanung, Finanzierung, Vorbereitung von Entwicklungsprojekten. Für all das sollen „Komitees“ zuständig werden, von einer „normalen“ Gemeindeverwaltung ist keine Rede. Kommunale Handlungskompetenz, die modernen Bedürfnissen entspricht und wenigstens kleine Inseln dörflicher Autonomie bestehen läßt, entsteht so bestenfalls als Zufallsprodukt.

„Moralisierung des öffentlichen Lebens“

Die Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank sollen auch zur „Moralisierung des öffentlichen Lebens“ beitragen. Benins Präsident Nicephore Soglo, auch „Mann von Bretton Woods“ genannt, betont deren Notwendigkeit in jeder Rede. Die regierungsnahe Zeitung La Nation berichtet von einem schönen Erfolg im Kampf gegen die Korruption: Drei Taxifahrer, von Polizisten ohne Lizenz bzw. mit unsicheren Fahrzeugen erwischt, wollten sich, wie üblich, freikaufen, indem sie ein, zwei 500- und 1.000-Francs-Noten (etwa 3,30 bis 6,60 DM) in die Papiere „gleiten“ ließen; sie handelten sich von diesen moralisierten Polizisten eine Strafanzeige und vor Gericht einen Monat auf Bewährung ein.

Die Rhetorik der Moral jedenfalls scheint sich auszubreiten. Während eines der erwähnten Umweltseminare fordert eine Arbeitsgruppe die Moralisierung de la vie environnementale, also etwa des Verhältnisses zur Umwelt. Politisiert ist das wohl schon: Nach der politischen Wende ermunterten vom Land zugewanderte Einwohner von Cotonou ihre zu Hause gebliebenen Verwandten, die forêts classées, also die seit der Kolonialzeit mehr oder weniger streng geschützten Waldgebiete, landwirtschaftlich zu nutzen. Dieser Schutz war allem Anschein nach als Bestandteil der alten Herrschaft angedeutet worden und somit als mit deren Sturz aufgehoben. Mit großem Aufwand hat man die Leute von seinem Weiterbestehen überzeugen zu können.

Das „Quartier Latin“ Westafrikas hieß Benin wegen seiner Intellektuellen früher einmal. Heute lauschen deren Nachfahren aufmerksam einem Lehrmeister neualter Provenienz. Edgar Pisani, Minister unter de Gaulle und Mitterrand, referiert im französischen Kulturinstitut „Pour l'Afrique' – Für Afrika. Am Eingang liegt sein neues Buch desselben Titels aus. Er skizziert „zur Orientierung“ seiner Zuhörer die großen globalen Veränderungen der letzten Jahre und kommt zu dem Schluß, daß Afrika diese Realitäten „wahrnehmen“ muß.

Die „Diskutanten“ zeigen sich lernbereit. Nach dem Zerbrechen des sozialistischen Blocks erteile man ihnen, den Afrikanern, jetzt neue Lektionen in Demokratie – welches Spiel denn nun Frankreich plane zur Wiedergeburt Afrikas? Streng tadelt Pisani sowohl den Glauben der Afrikaner, sich nach dem westlichen Modell entwickeln zu können, wie auch das Fehlen selbst von Umrissen eines afrikanischen Entwicklungsmodells. Er zeigt „Nicht-Elend“ (non-misère) als realistisches Ziel für die im Jahre 2010 eine Milliarde zählenden Afrikaner auf, plädiert für eine produktive Landwirtschaft und stellt großzügig die Gesellschaftsform des Nordens in Frage. Man erwartet geradezu ein aufmunterndes Allons, enfants! Selbst seine tadelnden „Provokationen“ können die Zuhörer nicht zu Widerspruch oder gar zu Kontroversen reizen.

Die größte Freiwilligenorganisation der deutschen Entwicklungszusammenarbeit leistete sich zu ihrem Jubiläum eine Veranstaltung mit dem Titel „Mit den Augen der Beniner – Eine andere Evaluation von 25 Jahren DED in Benin“. Ein deutscher Soziologieprofessor führte sie durch und präsentierte sie. Aus den Mündern der Beniner war nichts zu hören.

Eine neue Kaste von Freßsäcken?

Gegen ein Uhr nachts wird es auch am Boulevard St. Michel, einer der kilometerlangen Arterien Cotonous, allmählich still. Um so mehr fällt die plötzliche Bewegung auf: Ein Mensch wird gejagt. Sich unter den Schlägen der ihn verfolgenden Meute duckend, versucht ein Junge zu fliehen. Im Dunkel einer Seitenstraße verliert sich der Spuk. Die wenigen Passanten scheint er nicht zu kümmern. Der Ausländer als zufälliger Zeuge ist fast starr vor Entsetzen. Beninische Bekannte, denen er später von dem Vorfall berichtet, beruhigen ihn: Heute würden in flagranti ertappte Diebe von der Menge nur noch geschlagen, nicht mehr wie früher umgebracht.

Die Zeitungen sind da noch skeptisch. Fast jeden Tag ereile einen Dieb oder Räuber das „Schicksal, das er verdient“. Es fehle an Vertrauen zu Polizei und Justiz, die die Übeltäter nach einigen Wochen oder gar nur Tagen wieder laufen lasse. Selbstjustiz sei zwar verboten, doch ein leitender Kommissar empfehle, „pragmatisch“ zu sein und einzusehen, daß ein Gesetz, welches die „soziokulturellen Realitäten des Milieus“ nicht berücksichtige, nun einmal nicht wirksam umgesetzt werden könne.

Die Zeitungen in Benin bemühen sich um eine politisch wirksame Öffentlichkeit. Sie erörtern die Legalität der seit einem Jahr immer wieder aufflackernden Streiks im öffentlichen Dienst, prangern die Gründung neuer Ministerien und deren Passivität ebenso an wie das Betteln von Ministern bei ausländischen Gebern; sie warnen vor der Herrschaft einer „neuen Kaste von Freßsäcken“, erinnern den Präsidenten daran, daß die Beniner von der demokratischen Wende außer Freiheit vor allem wirtschaftliche und soziale Verbesserungen erwarten und daß das Strukturanpassungsprogramm zwar notwendig, aber auf Kosten der Gegenwart langfristig angelegt sei und langfristig wir alle tot seien. Sie mokieren sich über die Regierung, die andauernd sage: „Das Ausland beobachtet und bewundert uns, seien wir deshalb klug und enttäuschen wir nicht unsere Entwicklungspartner, die uns doch nur helfen wollen.“

Benin in seinem Tasten Richtung Demokratie sucht Wegweiser. Die Zeitungen schweben federleicht an schätzungsweise 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung vorbei. Ein alle zwei Wochen erscheinendes Magazin veröffentlichte die Ergebnisse einer Umfrage: was „die Beniner“ über den Präsidenten denken. Ausschließlich in Städten war gefragt worden, und dieser Ausschluß der Bauern und der sonstigen Landbevölkerung war kein Wort der Erklärung wert.