■ Eine Zyklentheorie der Großen Koalitionen
: Ewige Wiederkehr des Gleichen?

Die Welt ist im Umbruch, die Parteien aber gehen ihre alten Wege: Die CDU den der 50er, die SPD den der 60er Jahre. Wenn sich die Sozialdemokraten an den alten Zeitplan halten, werden sie im Jahre 2000 wieder in die Große Koalition eintreten: von 1949 bis 1966 war es so lang wie es von 1983 bis zur Jahrtausendwende gewesen sein wird. Vielleicht schaffen sie es aber auch schon vier Jahre früher, wie damals fast, als Wehner und von Guttenberg (Staatssekretär im Bundeskanzleramt) sich 1962 in Geheimverhandlungen auf die Große Koalition verständigten, Adenauer aber (noch) nicht wollte. Wie man auch rechnet: etwa 1996 wird es wieder eine Große Koalition geben.

In der Bundesrepublik existiert ein eingeschliffenes parteipolitisches Grundmuster, ein sich wiederholendes Drei-Phasen-Modell. Von Beginn an gab es ein Übergewicht der bürgerlichen Parteien, ungefähr in der Relation 60:40. Die Weichenstellungen für das Gesellschaftssystem und die außenpolitische Grundorientierung sind dann zwangsläufig Sache dieser Mitte- Rechts-Parteien. Nachdem sie das in den 50er Jahren bewerkstelligt hatten, war von CDU/CSU und FDP Positives nicht mehr zu melden. Abgesehen von der 57er Rentenreform: Problemstau und Reformunfähigkeit, außenpolitische Stagnation und zunehmende Verteilungskonflikte.

Das ist die Stunde der Großen Koalition, die Phase der „Aufräumarbeiten“ und technokratischen Reformen, zu der eine hinreichend angepaßte SPD auch gebraucht wird. Diese Koalition hat den breiten Rücken für soziale Kompromisse, sie modernisiert den Staatsapparat, aber sie ist unfähig zu Reformen, die gesellschaftlicher Mobilisierung bedürfen. Im Gegenteil, die Elefantenhochzeit – mit der die Mehrheit der Bevölkerung einverstanden war – provozierte Polarisierung und Gegen-Mobilisierung (APO und NPD), die als Reformdruck genutzt werden können, nicht müssen (Brandt setzte sich gegen Wehner durch).

Damit tritt der Zyklus in seine dritte, die eigentliche Reformphase. Die Außenpolitik wird auf zwei Beine gestellt, für kurze Zeit findet Umverteilung nach unten statt, die innenpolitischen Reformen sind anspruchsvoll, bleiben aber Torso. Diese Reformjahre waren sehr kurz: Schon 1974 übernahm Helmut Schmidt, von dem sowohl Sozial- wie Christdemokraten sagen konnten, er sei in der falschen Partei. Danach wieder die bürgerliche Mehrheit; 1989/90, obwohl abgewirtschaftet, aber in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen übernimmt sie erneut die Aufgabe der Weichenstellung. Heute wieder Reformstau, im bürgerlichen Lager nicht lösbare Verteilungskonflikte – eine „Gesetzmäßigkeit“, die aus den Verhältnissen und der Logik der Akteure zu entwickeln wäre.

Asylrecht, Solidarpakt, Kampfeinsätze von UNO-Truppen – die Antworten auf Sachfragen hängen auch ein bißchen von der Sache ab, mehr noch werden sie beeinflußt von strategischen Kalkülen. Man muß wissen, wo die Parteien hin wollen, um ihre Lösungsvorschläge verstehen zu können. Die SPD-Führung will in die Große Koalition. Sie sagt noch kaum ihre Gründe, einige liegen auf der Hand. Für viele der anstehenden Fragen reichen einfache Mehrheiten nicht aus. Große Koalition verschafft die Prämie für Zustimmungen, die die SPD auch sonst erteilen würde.

Wir haben, dank Föderalismus, ein politisches System zur Förderung einer Politik der Großen Koalition. Jedes größere Vorhaben bedarf der Zustimmung des Bundesrates, in dem die SPD die Mehrheit organisieren kann. Also wird zum Beispiel bei der Gesundheitsreform mit ihr verhandelt. Die praxisrelevantesten Fragen der nächsten Jahre sind die abstraktesten: die Steuerfragen, der Länderfinanzausgleich, die Finanzverfassung, Begrenzung und Abbau der Staatsverschuldung. Hier scheitern CDU/CSU und FDP (wie 1966) verteilungspolitisch, hier käme auch die SPD keinen Schritt mit einer FDP weiter, die als aggressive Interessenvertreterin ihrer Besitzklientel auftritt. In diesem finanzpolitischen Feld, in den sozialen Kompromissen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, zwischen Ost und West, Arm und Reich, liegt der harte Kern der Großen Koalition.

Hält die heutige SPD eine Große Koalition aus? Selbst 1966, als die SPD eine geschlossene, selbstbewußte, auf Machtteilhabe drängende Partei war, wollten diesen Weg zur Macht viele nicht mitgehen. Selbst zwei Jahre später, auf dem Nürnberger Parteitag 1968, hat die SPD-Führung die (nachträgliche!) Zustimmung zu einer Großen Koalition nur durch die massive Manipulation des Parteitagspräsidiums erhalten. Wie aber soll das heute gehen, da viele Delegierte mehr den Grünen ähneln – mit ihrem Bedarf an Identitätspolitik, ihrer relativen Gleichgültigkeit gegenüber Macht- und Regierungsfragen, ihrem unbedingten Postmaterialismus und Universalismus? In einer SPD, die stärker gespalten ist als irgendeine der anderen Parteien. Nur sie muß die extreme Spannung zwischen den beiden Polen der postindustrialisierten Gesellschaft, zwischen dem links-ökologischen Postmaterialismus und einem in Fahrt kommenden Rechtspopulismus, in sich aushalten.

Das „Lager der Ressentiments“, bestehend aus Deklassierten und Demoralisierten, umfaßt heute reichlich ein Viertel der BRD-Bevölkerung. Fremdenfeindlichkeit, soziale Aggressivität gegen Minderheiten, Entfremdung und Parteienverdrossenheit sind hier am stärksten ausgeprägt. Klare Mehrheiten dieses Milieus haben Sympathien für die Sozialdemokraten, aber auch die Republikaner sind hier weit überproportional gefragt. Diese Interessen werden in der SPD mindestens auf Landes- und Bundesebene nicht artikuliert, diese Verlierergruppen sind aber der unsichtbare Gast am Tisch der Opposition. Die Strategen kennen sie, am Diskurs beteiligt sind sie nicht. Sie können die SPD nur von außen, bei Wahlen, kontrollieren, und sie haben damit schon begonnen.

An der Asyldebatte der SPD wird deutlich, daß nicht nur heterogene Interessen, sondern auch unterschiedliche Legitimitäten klare Orientierungen verhindern. Daran werden auch „innerparteiliche Demokratie“ und ein Parteitag nichts ändern. Lange sah es so aus, als hätten nur die Grünen Probleme mit den Mehrfach-Repräsentativitäten. Aber es betrifft alle: Mit Bezug auf welche Einheit ist eine Politik repräsentativ? Engholms Linie findet eine sichere Mehrheit bei KommunalpolitikerInnen, den Landesregierungen und Landtagsabgeordneten, der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, der Partei- und Fraktionsführung. Kommunal- und LandespolitikerInnen stehen unter direktem Handlungsdruck, alle sind in besonderer Weise von Wahlen abhängig – die Delegierten deutlich weniger. Der Kampf zwischen multiplen Repräsentativitäten, für den es keine festen Regeln, nur Zwischenergebnisse gibt, er zerreißt die Partei zusätzlich.

Man sollte nicht versuchen, die SPD besser zu verstehen als sie sich selbst. Es reicht, wenn man versteht, daß ihre Probleme nicht besonders treffend mit Führungsproblemen, Opportunismus oder sonstigen Charakterschwächen zu beschreiben sind. Als einzige der beiden Großparteien ist die SPD mit allen gesellschaftlichen Konfliktfronten zugleich konfrontiert, sie selbst bleibt ein „umkämpftes Feld“. Anspruchsvollere Reformpolitik ist nicht ihr Markenzeichen, aber ohne sie wird es auch keine geben. Joachim Raschke

Politikprofessor in Hamburg