Rebellion der Selbstgerechten

Erfolgreich verhindert: die Welturaufführung von Lew Lunz' Stück „Stadt der Gerechtigkeit“  ■ Von Dietmar Hochmuth

Mit der permanenten Theaterprovokation ist das im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit so eine Sache. Mit deren Beschreibung in Form einer halbwegs ernstgemeinten Rezension jedoch erst recht (denn auch ich komme aus des Intendanten Frank Castorf „stillem Land“). Es juckt mich nicht, nirgends. Es tut mir höchstens leid. Und zwar das Ganze. Allenfalls rührend wirkt der Todesmut, mit der Stadtbekanntes, hinlänglich Verstaubtes so unerschrocken und immer wieder neu verkauft wird. Gestrickt nach einem Muster, wie von der Diskette. So absehbar wie das Wetter am Äquator. Theateravantgarde im Zehnerpack. Zum Kinokartenpreis, wie man hört.

Der Name des Regisseurs ist mir leider entfallen – zusammen mit dem Programmheft in der originellen Dunkelheit des Zuschauerraums. Ein Adept des Frank Castorf, und...? Im Foyer trommeln „Profis und Hausbesetzer“, was immer das bedeuten mag, auf Abfallkübeln unter Sowjetfahnen universelle Rotfrontkämpfer-Rhythmen, natürlich so ohrenbetäubend provozierend, daß ich die Frage nach Pressefotos trotz mehrerer Ansätze nicht hörbar genug stellen konnte.

Dann wurden Taschenlampen ausgeteilt – gegen die allgemeine Dunkelheit in Deutschland, damit jeder an seinen Sitz stolpert und nach Beginn den Bühnenraum individuell-interaktiv ausleuchtet oder, wenn er genug davon hat, sich den Spaß macht, seinem blinzelnden Vordermann für Sekunden heimzuleuchten und ihn außer Gefecht zu setzen. Der guckt nämlich vor allem nach hinten, denn (so etwas gab es ja auch noch nie!) der Zuschauerraum ist durch eine Art Kegelbahn aufwärts zweigeteilt, und natürlich beginnt die Inszenierung konsequent in Höhe der letzten Reihe (wurden eigentlich Karten für den Rang verkauft?), so daß sich alles die erste Viertelstunde lang umdrehen muß oder auch nicht mehr, wenn absehbar klar ist, daß dort die ersten drei Sätze in der bewährten Castorfschen Weise rezitiert, gesungen, gespuckt, geflüstert, gerülpst werden.

Fast hätte ich die szenische Aktion unterschlagen: Eine riesige Tüte Erdnußflips gelangt ultimativ zur Zwangsverteilung, damit man sich auch ja abgewöhnt, etwa im Anzug ins Theater zu kommen. Ein knappes Dutzend Mimen, unkenntlich gemacht bis zum No-name-Habitus und auffällig originell in enge Strickkleider, Jacken, Pullover gestopft, wie sie die Arbeiterwohlfahrt nicht mehr nehmen würde – vornehmlich aus knisternder Synthetik und von den DDR- SERO-Halden, arbeitet sich redlich bemüht mit dem Eifer einer ABM-Selbsthilfegruppe im Viertelstundentakt diesen Laufsteg hoch und runter, legt die Textilien samt Text ab und anschließend wieder an.

Dann kommt die Hymne der verblichenen Sowjetunion zur Aufführung, mal gesummt, mal gezischt, auf jeden Fall immer ausführlich. Dann – Achtung, Requisite! – ein Radiorecorder spielt Oldies der verbotenen Jugend der Theatermacher ein. Auch wieder in voller Länge.

Wenn Kürze laut Tschechow die Schwester von Begabung ist, dann ist die Volksbühne in diesen Tagen ein bemitleidenswertes Einzelkind. Denn nicht kurz darauf, sondern viel viel später wird auf der Drehbühne ein bißchen Wuppertaler Tanztheater sozusagen live zugeschaltet, die Dekoration kippt (natürlich planmäßig) vornüber, die ausgerollten Papierballen bäumen sich auf, segeln in den Zuschauerraum. Ein mit Hardware gefülltes Kissen („Wer hat in meinen Beutel geschissen?!“) kommt von hinten geflogen und erschlägt leider nur fast einen Zuschauer in der ersten Reihe (das wäre erst mal was gewesen!). Dann ein bißchen Text, ein bißchen Handlung, auf Schaukeln und aus Bühnenlöchern rhythmisiert. Schließlich, wenn gar nichts mehr bleibt, wird einfach berlinert. Dann endlich der Zeitbezug in Form der vertrauten Einsprengsel: War es vorige Woche „Es gibt kein Lear auf Hawaii“, so heißt es diesmal „Irrenland den Irren“ oder etwa „Oral. Alles super?“.

Ich weiß es nicht mehr. Dafür steht im Programmheft wieder auf jeder Seite: „Stoppt die Pogrome!“ Linkselitärer Stammtisch? Provokationsgebaren auf dem Niveau eines billigen Vorwands, auf den der Mob nur wartet? Einladungen in den Roten Salon. Avantgarde en suite. Und wehe dem, der da nicht mitmacht...

Selten habe ich ein so zweigeteiltes Premierenpublikum gesehen: Da saß angeödet-ratlos die frühere Fan-Gemeinde, Kritiker und Berufskollegen, neben der neuen: den halb so alten, viertel so alten Castorf-Jüngern. Die einen kamen gerade noch mit einem Bedauern davon, denn die Provokation funktioniert nicht. Sie wurden dafür demonstrativ überklatscht von den anderen. Wenn es denn so einfach wäre! Diese Volksbühne setzt auf die Flucht nach vorn, setzt mit Brachialgewalt auf ein sehr jugendliches Publikum – doch hoffentlich nicht etwa, weil es kein Gedächtnis für solche Art Theater haben kann? Um so wichtiger die Weihe der Jünger. Es ist, als bekämen sie einen alten, erwachsenen Witz erzählt und wagten nicht, nicht zu lachen.

Theater, das auf Grenzen und Feindbilder baut. Das ohne solche nicht kann. Was in Anklam und Karl-Marx-Stadt durchaus seine Semantik hatte (der Kampf gegen einen Text und dessen Verkrustung als Kampf gegen die allgegenwärtige Verkrustung), dann vom Westen „bemerkt“ wurde – jetzt implodiert es tragisch (und das tut weh!) im geistigen Format von Abiturzeitungen und strampelt sich genauso hilflos ab wie Wolf Biermann im Feuilleton. Nur: Warum zwängt sich Frank Castorf in diese Jacke? Warum muß er sich bescheinigen lassen, unter den Bedingungen von Beschränkung und gängelnder Fürsorge durch den Staat weitaus origineller gewesen zu sein? Warum muß die Rebellion gegen das Theater enden mit so selbstgerechter Intendanz?

Ich habe der Übernahme der Volksbühne durch Castorf mit der größten Sympathie entgegengesehen. Was aber dort zur Zeit kreiert wird, wirkt allenfalls wie der krampfhafte Versuch, nach Ablauf der dreijährigen Galgenfrist als Universal-Regime-Opfer in die Geschichte der großen Abwicklung eingehen zu wollen. Ist aber nichts anderes als der fortgesetzte Niedergang der Volksbühne seit dem Abschied von Besson/Karge/ Langhoff/Marquardt vor 15 Jahren– nur mit anderen Mitteln. Schon heute steht fest: Es wird sich eine große Trauergemeinde finden. Denn unter den Bedingungen der vermeintlichen Redefreiheit werden sich die Fronten zwischen Profis und Hausbesetzern so sehr verhärten, daß niemand riskieren wird zu bemerken, der König sei nackt.

So werden wir es alsbald mit einer neuen alten Unfreiheit zu tun haben, die nur ein schales DDR- Relikt ist. Ein Krankheitsbild. Dort war immer schon gut genug, wenn etwas anders war; wenn es überhaupt war, und so gingen die Kriterien vor die Hunde – daher die Ästhetik der obligaten Feindbilder.

Das ist Aura einer am Ende unkritisierbaren Underground-Nomenklatura. Sie hat sich nun an der Oberfläche zu behaupten und kommt dabei, wie man sieht, arg ins Schleudern. Denn nichts ist mehr (so simpel), wie es einmal war.

Ruft mich doch eben, nach Abgabe des Manuskripts, der Redakteur an und fragt verzweifelt nach dem Stück, was da gespielt wurde. Gute Frage. Ich habe es nicht vergessen, schlimmer: Ich habe es nicht erkannt. Man stelle sich vor, im Land der Känguruhs wird plötzlich ein Bild von Malewitsch oder Kandinsky entdeckt, und man hängt es zum ersten Mal öffentlich auf. In Paris. Mit dem Gesicht zur Wand.

Zugegeben, für Leute, die auf Bilder oder gar Malewitsch und Kandinsky neugieriger sind als auf deren Präsentation durch Galeristen, ist das nur bedingt originell. In etwa dieser Weise verfuhr die Volksbühne bei der Welturaufführung von Lew Lunz' „Stadt der Gerechtigkeit“, ein Stück, das genauso alt ist, wie die Sowjetunion wurde, und nun, nach 68 Jahren Vergessen, auf dem Theater seine Fehlgeburt erlebte.

Lunz gehörte zu den „Serapionsbrüdern“, den sogenannten „Westlern“ in den Richtungskämpfen der sowjetrussischen Literatur: „Die Westler (Kawerin und ich) sind der Ansicht, daß die zeitgenössische russische Literatur ungenießbar, langweilig ist... Die Westler blicken nach Westen. Sie lernen beim Westen.“ Schrieb Lunz. Fast ein Castorf-Ansatz. Lunz starb 1924 dreiundzwanzigjährig im Hamburger Exil – und sein Stück aus diesem ästhetisch wie geopolitisch spannenden Kontext heraus zu erschließen, wäre schon eine Herausforderung gewesen, über die sich freilich hinwegsetzen kann, wer meint, wir müßten es gar nicht erst kennenlernen, und es mit Worten wie „zuscheißen“, „abknallen“ und (natürlich) „Eiszeit– Scheißzeit“ zu erneuern trachtet.

Die Volksbühne will nun wöchentlich eine Inszenierung herausbringen. Heute abend sind Arnolt Bronnens „Rheinische Rebellen“ dran. Gerechterweise müßte allerdings die Volksbühne im Gegenzug als kleinen bürgerlichen Kompromiß für profane Geisterfahrer Textbücher ausgeben. Wie in der Oper.

Lew Lunz: „Stadt der Gerechtigkeit“, Regie: Andreas Kriegenburg, Volksbühne Berlin, nächste Vorstellungen: 29.10./4.11.