Eine Kleinstadt dreht durch

Ein Abend in der Bürgerversammlung im mecklenburgischen Goldberg/ Demokratie ist dem Volk völlig schnuppe – die AsylbewerberInnen müssen weg!  ■ Aus Goldberg Bettina Markmeyer

Heute abend zählt nur Goldberg. Goldberg und sonst gar nichts. Der Minister ist lediglich gut zum Beschimpfen. Die „Asylanten“, die „Goldbergs Tod“ sind, sollen raus, weg, und zwar schnell. Bonn ist ein Reizwort, der fortgesetzte Betrug am Osten. Die Wende, die war einmal. Und Demokratie? Nein danke, sagen die GoldbergerInnen, diese Demokratie wollen wir nicht. Sie brüllen es heraus, sie zetern und wettern, sie pfeifen und buhen, sie klatschen Beifall nur den eigenen Leuten. Der Saal ist überfüllt, überheizt und stickig zum Umfallen. Eine Kleinstadt dreht durch.

Wohl 500 GoldbergerInnen sind am Dienstag abend zur Bürgerversammlung mit dem Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns, Lothar Kupfer (CDU), gekommen. Direkt neben dem „Artur-Becker-Klubhaus“ und doch in einer anderen Welt liegen hinter Stacheldraht im Dunkeln die Baracken, in denen seit Montag Roma, einige Türken und Rumänen untergebracht sind. Von hier aus werden die Asylsuchenden in andere Bundesländer verteilt, denn „Mecklenburg-Vorpommern ist seit dem 1. Oktober ein sogenanntes Abgeberland“, erklärt Kupfer. 150 Asylsuchende pro Woche werden zukünftig von Goldberg aus weggefahren.

Das könnte eine gute Nachricht sein, meint Kupfer wohl. Doch die Versammelten im Saal nehmen sie gar nicht wahr. Sie sehen nur, daß „die Asylanten“ jetzt da sind, obwohl die ganze Stadt zwei Wochen lang protestiert hat, der Bürgermeister immer vorneweg: zunächst mit einer „Dauermahnwache“ Tag und Nacht, mit Lagerfeuer, Erbseneintopf und geräucherten Forellen, unterstützt durch Spenden und gestärkt durch Solidaritätsbekundungen auch aus dem Westen, und zuletzt, am Montag, mit einer Blockade, die sogar in der Tagesschau zu sehen war.

„Goldberg“, sagt die 53jährige Waltraut Müller, eine der BlockiererInnen und Nachbarin des Asyllagers, „Goldberg ist jetzt ein Begriff im ganzen Land!“ Das 6.000-Einwohner-Städtchen im Kreis Lübz, eine knappe Autostunde von der Landeshauptstadt Schwerin entfernt, sieht sich im stellvertretenden Kampf gegen „die Asylantenflut“, repräsentiert „wir hier unten“ gegen „die da oben“. Und weil der Minister aus Schwerin „doch keine Ahnung hat, was hier los ist“, wird man ihm das jetzt mal zeigen. Gekommen sind alle, Jugendliche, Ehepaare mittleren Alters, Frührentner, Alte.

Der Bürgervorsteher Hans Henze stellt die Fragen: Wie will denn die Landesregierung „den wirtschaftlichen und sozialen Schaden“ durch das Asyllager abfangen? Befürchtet wird schließlich nicht weniger als der Niedergang einer Kleinstadt. Bekommt Goldberg Entschädigungszahlungen? Was wird Schwerin bei „radikalen Ausschreitungen“ tun? Wo ist die Polizei, die die Goldberger Bürger schützt – vor den Roma vor allem, aber auch vor „Radikalen“? Sind die Baracken überhaupt geeignet, um 300 Menschen unterzubringen? Es fehlten Toiletten, Duschen, und, so fragt ein Mann: „Was machen Sie, wenn dort eine Epidemie ausbricht?“ Schließlich, das wird, wenn auch nicht am Saalmikrophon, so doch in den Reihen, deutlich ausgesprochen, schließlich sind die Zigeuner nach Goldberg gekommen.

Hinter all diesen Fragen steht die Forderung, das Lager „sofort wieder aufzulösen“, andernfalls, so bekommt Kupfer es an diesem Abend wohl ein dutzendmal zu hören: „Müssen Sie zurücktreten!“ Niemand glaubt Kupfer, als er „im Namen der Landesregierung“ versichert, „daß diese Außenstelle der ZAST im April 1993 wieder geräumt sein wird“. Daß die Goldberger Unterkunft als Provisorium nur ein knappes halbes Jahr belegt sein wird, und dies außerhalb der Saison am Goldberg-See und zwei Kilometer vom Ort entfernt, ficht das Volk nicht an.

Solche Fakten können die aufgeputschte Stimmung im Saal nicht wenden. Auch daß angesichts dieser begrenzten Frist weder der zukünftige Campingplatzbetreiber noch der Investor für ein 200-Betten-Hotel mit Sportanlagen keineswegs – wie allenthalben in den Medien behauptet – von ihren Vorhaben zurückgetreten sind, spielt heute abend keine Rolle.

Der Innenminister, nervös, schlecht vorbereitet, über die eigenen Sätze stolpernd, läßt sich hernehmen wie ein dummer Junge, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Er läßt sich unterbrechen, beleidigen, entschuldigt sich gleichwohl fortwährend, biedert sich an, dankt den GoldbergerInnen für ihren „friedlichen“ Protest und ihre umsichtige „Sicherheitspartnerschaft mit der heimischen Polizei“ ... Vor Ort, in den Baracken, war er noch nicht. Höhnisches Gelächter ob seiner Zusicherung, im Lager werde ein Wachdienst für Ordnung sorgen, und wütendes Gebrüll für sein Angebot, eine mit drei Polizisten rund um die Uhr besetzte Wache am Heim einrichten zu lassen. „Wie sollen drei Polizisten aufpassen, daß die Roma nicht in unseren Geschäften klauen?“ brüllt einer, und ein anderer: „Sollen die uns etwa helfen, wenn die Skins kommen?“

Stolpert die Landesregierung in Schwerin in der Asylpolitik nicht von einem Fiasko ins andere? Erst Rostock-Lichtenhagen und die Evakuierung der Asylsuchenden ins Provisorium Hinrichshagen. Nun in Goldberg die nächste Übergangslösung, bis die endgültige ZAST in Horst bei Boizenburg fertiggestellt sein wird. Und auch in Horst wird schon protestiert – nicht zuletzt von GoldbergerInnen, die am Wochenende die HorsterInnen unterstützen. Wie soll der Minister da glaubhaft machen, daß er die Lage im Griff hat: Goldberg ist überall im Land.

Er sei auf das Gesetz vereidigt, rechtfertigt sich Kupfer. Das verpflichte ihn unter anderem dazu, für die Unterbringung von AsylbewerberInnen zu sorgen. Gleichzeitig läßt der Minister keinen Zweifel daran, daß er das Gesetz, auf das er vereidigt ist, lieber heute als morgen ändern würde, daß er nicht anders denkt über die „Wirtschaftsflüchtlinge“ als die GoldbergerInnen. Wie soll dieser Minister als Repräsentant einer Demokratie die GoldbergerInnen auch nur einmal daran erinnern, daß bei Angriffen von rechts üblicherweise die Fremden gefährdet sind und staatlichen Schutzes bedürfen, bevor man sich um die Sicherheit einer deutschen Kleinstadt Gedanken machen muß?

Nur eine Frau unter den 500 Versammelten wagt es, einen anderen Ton anzuschlagen. Es bricht mehr aus ihr heraus, als daß sie ins Mikrophon sprechen könnte, sie schluchzt: „Was wäre denn gewesen, wenn sich die Leute in Prag genauso verhalten hätten wie wir hier? Unter denen aus der DDR waren doch auch Wirtschaftsflüchtlinge ...“ Weiter kommt sie nicht. Sie wird niedergeschrien, weint, ihre Hände zittern. „Geh doch nach Hause!“ brüllen ihr die zunächst Sitzenden ins Ohr, „Hau ab! Leg dein Amt nieder!“ Die Frau ist Amtsvorsteherin verschiedener Gemeinden mit gemeinsamer Verwaltung, kommt aus einem Dorf in der Nähe, ist heute abend aber „einfach privat“ hier. Sie will wenigstens „mit den Asylbewerbern reden“, wenn sie schon sonst nichts tun könne.

Während der zweieinhalb Stunden, die die Goldberger Bürgerversammlung dauert, haben die AsylbewerberInnen vor ihren Baracken gestanden und gerätselt, was passiert. Als ihre zukünftigen deutschen NachbarInnen aus Goldberg und Umgebung mit Autos und Bussen anrollen, befürchten sie einen Angriff. „Warum soviel Polizei?“ fragen zwei Roma. Und: „Was haben Deutsche für Probleme?“ Eine Passantin erklärt ihnen schließlich, es gebe nur eine Versammlung, eine „große Diskussion“, keinen Angriff, „keine Rechtsradikalen“. „Versammlung wozu?“ fragt Sebastian, ein Rom aus dem westlichen Rumänien. „Über euch wird geredet. Die Deutschen haben Angst vor euch, wollen euch nicht.“ – „Warum?“ – „Sie wollen nicht, daß ihr bettelt, haben Angst, daß ihr klaut.“ – „Aha“, sagt er und steckt sich eine neue Zigarette an, „verstehe.“ Nein, mit in den Saal kommen wolle er nicht: „Zuviel Angst.“

Im Klubhaus „Artur Becker“ packt Innenminister Lothar Kupfer seine Sachen. Die BürgerInnen haben ihren Frust abgelassen, miteinander geredet wurde nicht. Die GoldbergerInnen sind genauso verbittert über die „diktatorische Einrichtung der ZAST-Außenstelle“ in ihrer Stadt wie vor dem Treffen mit dem Minister, fühlen sich „von oben herab“ dirigiert „wie früher“, fühlen sich aber auch als HeldInnen, weil sie, wie einer sagt, „die ZAST hier nie akzeptieren“ werden. Sie haben ihren Bürgermeister mit Standing ovations gefeiert, waren begeisterte StatistInnen in einer eigens für den Innenminister arrangierten Show: Der Bürgermeister bietet aus Gram über das ungelöste Asylproblem von Goldberg seinen Rücktritt an, das Volk bejubelt ihn als Spitzenmann ihres Widerstandes, er zieht das Rücktrittsangebot zurück. Man hält zusammen in Goldberg, gegen alles Fremde, gegen „die da oben“, gegen die neue Zeit, gegen zu wenig Rente, zu hohe Kriminalität, gegen die eigene Angst. Was zählt, ist Goldberg, nichts sonst: eine aggressive, gefährliche und kaum kalkulierbare Suche nach verloren geglaubter Identität.