Die PDS übt sich in Verdrängung

Der PDS-Parteivorstand hält an seinem Vorsitzenden André Brie trotz Stasi-Belastung fest/ Die letzten Sommer beschlossene Offenbarungspflicht für Funktionäre sei „nicht mehr haltbar“  ■ Von Dieter Rulff

Berlin. Die meisten hatten die Nachricht am Dienstag aus der Zeitung erfahren, einzelne waren kurz vor der Veröffentlichung eingeweiht worden, eine ganze Reihe meinte, es schon lange gewußt zu haben: Betroffenheit und geschäftige Gelassenheit waren die Reaktionen des Parteivorstands der Berliner PDS auf die Enthüllung ihres Vorsitzenden André Brie, zwanzig Jahre für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet zu haben. Doch alle, die am Mittwoch abend im Karl-Liebknecht-Haus zusammengekommen worden, um über Konsequenzen zu beraten, einte der Unmut darüber, sich schon wieder zu einer Auseinandersetzung genötigt zu sehen, die man endlich abgeschlossen wissen will – die Debatte um die eigene Vergangenheit.

Die karge Schilderung seines politischen Werdegangs, die Brie einleitend gab, bot auch kaum Anlaß für eine solche Debatte. Getragen von der Erkenntnis, „daß die DDR ein gefährdetes Land ist“, habe er, zeitweise „diszipliniert bis zur Bewegungslosigkeit“, für die Partei gearbeitet, in den achtziger Jahren zunehmend opponiert, aber auch „widerliche Selbstkritik“ gemacht. Für das MfS habe er an seinem Institut sowohl Reiseberichte als auch Berichte über Reisekader abgegeben. Aus seinem damaligen Verständnis heraus sei es 1970 richtig gewesen, sich ans MfS zu wenden, er habe noch bis in die achtziger Jahre eine Reihe guter Gründe dafür gehabt. Die „wirkliche Einsicht, wie falsch das alles ist“, habe sich erst mit der Wende herausgebildet.

Den Vorstandsmitgliedern war eine solche Vita vertraut, einzig Peter Zotl fühlte sich „persönlich beunruhigt“ darüber, daß Brie Berichte über Reisekader abgegeben hat, doch auch er war sich sicher, daß sie „vom Inhalt her im Üblichen“ lagen. Reisekadereinschätzungen waren auch für Margitta Linke „eine normale Kiste“, für die man kein IM gewesen sein müsse. Konkrete Fragen nach dem Inhalt der Berichte blieben Brie erspart. Stasi-Vergangenheit, sofern sie am Mittwoch abend Thema ist, ist eingebettet in das, was Zotl „die Totalität der DDR“ oder die „differenzierte Totalität von Person und Geschichte“ nannte, „die wir annehmen müssen“. Wenn von Verdrängung die Rede war, so war damit die Gesamtheit der Verhältnisse gemeint. Bries Verhalten sei, so brachte es Vorständler Klaus Wiezorek auf den gemeinsamen Nenner, ein politischer Fehler, der aus der Situation geboren sei, in der die Partei sich befinde. Die abendliche Runde vermied es, sich auf Einzelaspekte zu konzentrieren, die die Frage nach einer individuellen Schuld aufkommen lassen könnte. Die Einschätzung des Schriftstellersohns Andrej Hermlin, die PDS sei mit der SED enger verwoben und sollte dazu stehen, rief keinen Widerspruch hervor.

Die ganze Zeit, in der der Vorstand seine Personalie beriet, leitete Brie die Sitzung. Er machte damit sinnfällig, was an diesem Abend jedem von vorneherein klar war und was die meisten bereits einleitend betonten: er ist auf seinem Posten unangefochten, er soll dort weiterarbeiten. Er gilt als der Reformer, der die Partei aus ihrem Tief geholt hat, in das sie, unter anderem wegen der Stasi- Verstrickung des Brie-Vorgängers Wolfram Adolphi, geglitten war. Er ist, so wurde mehrfach betont, eine Integrationsfigur, ein Hoffnungsträger.

Das Festhalten an seiner Person bereitet allerdings auch Probleme, die vor allem von der Fraktionsvorsitzenden Gesine Lötzsch vorgebracht wurden. Ihre Fraktion stehe „im Feuer der Öffentlichkeit“, deshalb haderte sie mit der Glaubwürdigkeit der solchermaßen praktizierten Geschichtsaufarbeitung. Doch sie und die übrigen anwesenden Fraktionäre standen mit ihrer Haltung alleine da. Den Vorstand kümmerte noch nicht einmal das Parteistatut, wonach er Brie wegen seiner eingestandenen Unehrlichkeit von seinen Funktionen entbinden müßte. Mehrheitlich verständigte er sich in einer Erklärung darauf, lediglich „den Zeitpunkt und die Art und Weise“ der Offenbarung des Vorsitzenden als politischen Fehler zu bewerten. Einen Rücktritt lehnten die Vorständler ab, denn dies sei „kein Schritt in Richtung Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie und der Geschichte von DDR/SED/MfS in ihrer Einheit“. Der Landesvorstand empfahl dem Parteitag, Brie zu bestätigen.

Statt seiner wird am Samstag der sogenannte MfS-Beschluß zur Disposition stehen, gegen den der Vorsitzende verstoßen hat, indem er sich nicht vor seiner Wahl im letzten Herbst offenbarte. Diese Verpflichtung der Funktionäre zur Offenlegung ihrer Stasi-Tätigkeit, von der Partei im letzten Sommer beschlossen, war nach Zotls Einschätzung nicht mehr haltbar. Die gesellschaftliche Entwicklung sei mittlerweile anders. Es seien „Alibibeschlüsse“ gewesen. Angesichts dieser Argumentation fragte sich die Abgeordnete Eva Müller: „Weshalb sind wir in der PDS und nicht in der SED?“