Die SPD Hessen hatte geladen, und viele etablierte ImmigrantInnen und Deutsche guten Willens waren gekommen: Experten aus gesellschaftlichen und wirtschaft- lichen Organisationen und Verbänden diskutierten am Mittwoch abend in Wies- baden über Situation und Zukunft von Nicht-Deutschen. Von K.-P. Klingelschmitt

Wahlrecht für alle ist der Schlüssel zur Integration

Sagen Sie uns doch, Herr Ministerpräsident, wieviele Ausländerinnen und Ausländer in der Landesverwaltung arbeiten – aber bitte erzählen Sie uns jetzt nichts von Putzfrauen.“ Hessens Landesvater Hans Eichel (SPD) erzählte an diesem Mittwoch abend im gediegenen Hotel „Oranien“ in Wiesbaden nichts von Putzfrauen. Eichel erzählte auf dem von seiner Partei veranstalteten Forum „Bei uns gehören Ausländer dazu“ etwas von den Hugenotten und den Polen im Ruhrgebiet, von der polnischen Sopranistin und dem US- amerikanischen Tenor, die im Staatstheater – begleitet von einem bayerischen Pianisten – eine Arie des italienischen Komponisten Verdi vorgetragen hätten – „bis auf Verdi alles Wiesbadener“. AusländerInnen in Deutschland seien nämlich nicht nur eine „ökonomische Notwendigkeit, sondern auch eine kulturelle Bereicherung“. Deutschland sei ein Einwanderungsland, so Eichel. Und: Deutschland sei immer ein Einwanderungsland gewesen. „Das Problem ist nur, daß wir diese Tatsache jahrzehntelang verdrängt haben.“

Feindliches Klima auch nach 20 Jahren Ausländerarbeit

Da gab es braven Beifall für den braven Sozialdemokraten von den knapp 100 braven Sozialdemokraten und Gewerkschaftsmitgliedern, die gekommen waren, um mit Experten aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisationen und Verbänden über „Situation und Zukunftsperspektive von nicht-deutschen Mitgliedern unserer Gesellschaft“ zu diskutieren. Daß die vor Jahrzehnten als Arbeitsmigranten nach Deutschland gekommenen AusländerInnen die Integrationsbereitschaft dieser Gesellschaft heute nach dem immer noch dürftigen Ausmaß ihrer gesellschaftlichen Partizipation beurteilen, war ein Ergebnis der Debatte, das der Ministerpräsident, der sich bei den Redebeiträgen der Migranten eifrig Notizen machte, mit zurück in die benachbarte Staatskanzlei nehmen konnte. Ein anderes die bittere Erkenntnis, daß auch ein seit 20 Jahren in der noblen Kurstadt etablierter Ausländerbeirat, eine engagierte kommunale Arbeit mit deutschen und ausländischen Jugendlichen, eine überwiegend gutsituierte Wohnbevölkerung sowie ein bislang prall gefülltes Stadtsäckel zur (fast) vollständigen Befriedigung aller Bedürfnisse das Aufkommen eines ausländerfeindlichen Klimas nicht haben verhindern können.

„Ich krieg in meinem Sportverein kein Bein mehr auf den Boden, wenn ich mich gegen den Zeitgeist stemme und mich für Ausländer einsetze“, klagte ein älterer SPD- Stadtverordneter aus dem Publikum. Auf dem Podium konstatierte der Vorsitzende des Flüchtlingsausschusses des evangelischen Dekanatsverbandes, Winfried Warneck, frustriert, daß sich eine latente Ausländerfeindlichkeit „quer durch alle Schichten“ etabliert habe – „auch in den Kirchengemeinden und gegen unsere Glaubensgrundsätze“. Und der Vorsitzende des Ausländerbeirates der Stadt, Mehmet Yilmaz, sprach davon, daß für die AusländerInnen in der Kur- und Kulturstadt die Angst ein „ständiger Begleiter“ geworden sei: „Es gibt viele Menschen mit fremdem Paß, die sich ernste Gedanken über ihre weitere Existenz in diesem Lande machen.“

Die sanfte Integrationspolitik im Rathaus von OB Achim Exner (SPD) also ein Scherbenhaufen? Zertreten von den Springerstiefeln der rechtsradikalen Schlägerbanden in Ost und West und zerredet von Politikern, denen Worte wie „Scheinasylanten“ und „Asylantenschwemme“ so leicht von den Lippen gehen? Es waren vor allem die AusländerInnen, die die rat- und mutlosen Deutschen an diesem Abend ermunterten, die Auseinandersetzung mit den Rechten offensiv zu führen und den eingeschlagenen Weg der Integration – „ohne Assimilation“ (Yilmaz) – weiter zu gehen. Der Schlüssel für eine gemeinsame Zukunft, sagte Yilmaz, sei das Wahlrecht für AusländerInnen auf allen Ebenen. Und das frisch gekürte Vorstandsmitglied der IG-Metall, Yilmaz Karahasan, stellte fest: „Wir sind integriert, wenn es um die Bestreitung der Kosten für die deutsche Einheit geht. Wir sind problemlos in das deutsche Steuer-

und

Ren-

tenkassensystem integriert. Und das ist auch alles in Ordnung so. Aber wenn es um staatsbürgerliche Rechte geht, sind wir alles andere als integriert – dann sind wir Gastarbeiter.“

Das kommunale Wahlrecht für alle, da waren sich die Anwesenden einig, sei nicht nur notwendig, um deutsche PolitikerInnen zum Einsatz für die Belange der ausländischen BürgerInnen zu animieren. Vor allem werde mit der Einführung des kommunalen Wahlrechts für alle der unerträgliche „Unterklassenstatus“ der AusländerInnen beseitigt. Für

Kara-

hasan ist der Umstand, daß es in den Großbetrie-

ben dieses Landes bislang noch nicht zu Ausschreitungen oder auch Übergriffen einzelner Rechtsradikaler gegen ausländische ArbeitnehmerInnen gekommen ist, der arbeits- und sozialrechtlichen Gleichstellung von Deutschen und Ausländern geschuldet: „Gleiche Pflichten, gleiche Rechte, gleiche Arbeit – das schafft ein Gemeinsamkeitsgefühl.“ Das sah der Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Chemie in Wiesbaden, Manfred Hoppe, ähnlich. Die „für uns unverzichtbaren“ ausländischen Arbeiter, so Hoppe, seien in der Industrie „voll integriert. Ausländerfeindlichkeit spielt bei uns in den Betrieben keine Rolle.“ Doch der Arbeitgebergeschäftsführer warnte auch: Ob der „stille Konsens“ in den Betrieben tatsächlich von Dauer sei, werde sich erst dann zeigen, wenn es zu einer Rezession komme.

Daß auf diesem Weg zur „vollständigen Integration“ bereits nach den ersten Schritten eine bis heute andauernde „Rast“ eingelegt wurde, steht für Ausländerbeiratschef Yilmaz außer Zweifel: Noch nicht einmal mehrsprachige Formulare gebe es in der Wiesbadener Stadtverwaltung. In den Amtsstuben säßen nach wie vor die deutschen Beamten, trotz des seit gut zwei Jahrzehnten hohen Anteils von ausländischen BürgerInnen von etwa 16 Prozent. Und noch immer würden sich auch viele deutsche Vereine gegen AusländerInnen abschotten. Gerade die Kommunen seien gefordert, sagte Yilmaz, denn „Integrationsarbeit muß in den großen Städten geleistet werden“.

Für die Wiesbadener Schulleiterin Enja Riegel heißt „Integrationsarbeit leisten“ auch, daß Schule neu organisiert werden muß. In den Schulen gebe es keine Ausländerfeindlichkeit, „aber es gibt den Rechtsradikalismus“. Und der sei Resultat der „großen Vereinsamung“ der Jugendlichen in allen Lebensbereichen. Jugendliche würden heute in einer Wolfsgesellschaft aufwachsen und sehr früh mitbekommen, daß man offenbar nur über den Kampf gegen andere zur gesellschaftlichen Spitze – oder zumindest zur subsistenzsichernden Mittelklasse – vorstoßen könne. „Versager“ seien dann schnell bereit, sich dort zu engagieren, wo Angebote gemacht würden, die Macht suggerierten: „In der Identifikation mit dem großen Deutschland wird die eigene Misere verdrängt.“ Das alles, so Riegel, sei kein spezifisch deutsches Problem, sondern ein „Resultat des rapiden sozialen Wandels“. Integrationsarbeit heute heiße deshalb auch, daß gesellschaftliche Befriedungsarbeit geleistet werden müsse: „Schulen müssen wieder Orte werden, wo junge Menschen Vertrauen finden, wo sie mit anderen in Dialog treten, wo sie lernen können, daß das Fremde spannend sein kann und die Fremden eine Bereicherung für unser alltägliches Leben.“

Landesvater Eichel: „Wir brauchen Zuwanderung“

Zurück zu den „Putzfrauen“. Natürlich mußte auch Ministerpräsident Hans Eichel konstatieren, daß – gemessen am Anteil der Wohnbevölkerung – AusländerInnen in der öffentlichen Verwaltung (noch) unterrepräsentiert seien. Ihm war klar, daß die „Stimmungsbasis für die Integration“ in Deutschland erst wiederhergestellt werden muß – über die Auseinandersetzung mit den klimavergiftenden Rechten und ihren Claqueuren in der „normalen“ Bevölkerung. Eichels Fazit: „Wir brauchen eine sozialverträgliche Zuwanderung, denn nur wer seinen gesellschaftlichen Status nicht bedroht sieht, hat keine Angst vor Zuwanderung. Und wer in seinem Status verunsichert ist, reagiert mit Ängsten auf die Fremden.“

Eines stand am Ende der Veranstaltung der Deutschen guten Willens und der etablierten ImmigrantInnen jedenfalls fest: Die in ihrem Status verunsicherten AusländerInnen reagieren heute mit Angst auf die Deutschen. Und von Integration reden zur Zeit nur noch die Deutschen, die ohnehin schon bereit waren, diesen Weg zu gehen.